Kardinal vor La Rochelle
Deichs und das Gespräch unseres Besuchers mit dem König.
Über den Deich von La Rochelle sprach damals ganz Europa. Und er wurde auch allen ausländischen Gesandten vorgeführt, die
ins Feldlager kamen und Ludwig ihre Ehrerweisungen darbrachten, doch gingen die Meinungen der Besucher über den Deich weit
auseinander. Ob gut oder schlecht, hing die Einschätzung der einzelnen Diplomaten aber weniger von einer wahrhaftigen Bewertung
als von den Wünschen ab, die sie für den Erfolg unserer Waffen hegten oder nicht hegten.
Wie der Leser weiß, verbreiteten die Rochelaiser
urbi et orbi
ihre ungeheure Verachtung für den Deich und versicherten, er werde weder einem stärkeren Sturm noch einem entschlossenen Angriff
der englischen Flotte standhalten. Aber wie sollten sie auch anders reden? Hätten sie die Engländer sonst überzeugen können,
ihnen Hilfe zu bringen? Das schlimme dabei war |322| nur, daß sie ihre Behauptung, der Deich sei schwach, am Ende selber glaubten. Wie Ovid sagt:
»Spes quidem fallax, sed tamen apta Dea est.«
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Jedenfalls war Lord Montagu der erste und letzte Engländer, der jemals den Fuß auf den Deich setzte. Er schritt ihn ab, und
ich begleitete ihn, doch ohne etwas zu sagen, weil ich mich nicht dazu herbeilassen wollte, das Loblied dieser kyklopischen
Befestigungsanlage anzustimmen, die dermaßen originell und machtvoll war und den Krieg gegen die Engländer nicht nur gewonnen,
sondern auch zweimal verhindert hatte, daß sie ihn überhaupt anfingen. Lord Montagu verstand offenbar, warum ich schwieg,
und besichtigte den Deich lange und gewissenhaft, doch auch er versagte sich jedes Wort. Erst nachher wandte er sich mit einem
kleinen Lächeln an mich und mit der sehr englischen Sorge, fairness zu zeigen.
»Wie schade«, sagte er, »daß Mylord Duke of Buckingham den Deich nicht besichtigen konnte! Er hätte eingesehen, daß man ihm
nicht nahen und ihn folglich gar nicht einnehmen kann.«
Am folgenden Tag um Schlag zehn Uhr führte ich Lord Montagu zum König in seiner provisorischen Wohnung zu Laleu. Der Saal
war vollkommen leer, mit Ausnahme eines einzigen Lehnstuhls, und dort saß Ludwig, den Hut auf dem Kopfe. Immerhin brannte
im Kamin ein schönes Feuer und verlieh der Begegnung einige Wärme, die, nach Ludwigs undurchdringlichem Gesicht zu urteilen,
unter ziemlich frostigen Auspizien begann. Lord Montagu betonte zunächst, wie hoffnungsvoll es sei, daß zwischen Ludwig XIII.
und König Karl I. von England eine erste Einigung bestehe. Dann machte er eine Pause, als erwarte er, daß der König sofort
antworten würde. Ludwig sagte aber, er möge fortfahren, und gab ihm zu verstehen, daß er das Ende des Vortrags abwarten wolle,
um dann auf alle angeschnittenen Punkte zu antworten. Dieses Vorgehen schien Lord Montagu ein wenig aus dem Konzept zu bringen,
vermutlich hätte er lieber erst das Terrain sondiert, um zu sehen, wie weit er gehen könne. Doch er verneigte sich und begann
mit seinen Forderungen: Noch bevor La Rochelle kapituliere, woran er nun nicht mehr zweifele, möge Seine Majestät der englischen |323| Garnison erlauben, die Stadt zu verlassen. Zum zweiten wollte er, daß Seine Majestät den Herzog von Soubise begnadige. Und
drittens forderte er für die Rochelaiser Vergebung sowie Religions- und Glaubensfreiheit.
Während er sprach, konnte ich im Gesicht des Königs nicht die leiseste Regung erkennen. Es sah aus wie aus Marmor gehauen.
Und auch als er sprach, verrieten weder seine Stimme noch sein Gesicht in irgendeiner Weise, was er empfand.
»Lord Montagu«, sagte er mit fester Stimme, »die englische Garnison hat gegen meine Armeen Seite an Seite mit den Rochelaiser
Aufsässigen gekämpft. Es kommt also nicht in Frage, ihr eine bevorzugte Behandlung zu gewähren und sie aus La Rochelle herauszulassen,
bevor La Rochelle kapituliert hat. Diese Soldaten sind meine Gefangenen, und ich werde sie ebenso gut oder schlecht behandeln
wie König Karl seine französischen Gefangenen. Dieses Problem muß durch gütlichen Austausch gelöst werden. Was Eure übrigen
Vorschläge angeht, Lord Montagu, so wundern sie mich. Niemals, weder durch Diplomatie noch durch Waffen, bin ich zur Unterstützung
der verfolgten englischen Katholiken eingeschritten, weil ich meinte, der König von England sei der Herr in seinem Reich.
Das bin ich auch in meinem. Es ist nicht nötig, daß König Karl sich zwischen die Rochelaiser und mich stellt
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