Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
Handinnenflächen. Die Tattoos zeigte sie Abby ganz bewusst, um die Aufmerksamkeit der Kleinen zu erregen.
Wie ein Metronom wanderte Abbys Blick zwischen den Tätowierungen hin und her.
»Das hier«, verkündete Mary mit strahlender Miene, »ist eine Lotusblüte und steht für die Abkehr von der Realität. Und schön ist sie auch.« Abby lächelte über das ganze Gesicht; offenkundig fasste sie Zutrauen zu Mary, die nun näher herantrat und dem Mädchen die andere Hand hinhielt. »Der Smiley hingegen soll mich ermuntern, mir weniger Sorgen zu machen.«
Plötzlich brach Abby ganz spontan und völlig unbefangen in ein glockenklares Lachen aus. Einen Moment später legte sie verschämt die Hand auf den Mund.
Zum ersten Mal ihre wohlklingende Stimme zu hören tat uns in der Seele gut.
»Abby«, sagte ich, »Dathi hat mir gestern berichtet, du hättest dich ihr anvertraut. Nun ist sie wie vom Erdboden verschwunden. Kannst du uns einen Tipp geben, wo wir nach ihr suchen sollen?«
Abbys Blick huschte über mein Gesicht.
»Bitte, sprich mit mir. Ich muss unbedingt erfahren, was du ihr gesagt hast. Wir brauchen deine Hilfe.«
Sie holte tief Luft und schaute mir unverwandt in die Augen. Um sie zu ermuntern, trat ich noch einen Schritt näher.
»Meine Mutter hat einen Nasenstecker.« Ihre Stimme klang brüchig, zögernd. »Einen winzigen Diamanten oder so etwas in der Art.« Sie tippte auf ihren rechten Nasenflügel.
Ich hatte allerdings Fotos von Marta gesehen, auf denen kein Nasenstecker zu sehen gewesen war. Zudem glaubte ich nicht, dass die Frau eines Bankers diese Mode mitmachte.
»Meine Mutter kam in jener Nacht zu mir und wollte von mir wissen, wo Daddy seine Sachen aufbewahrt. Sie wollte das zurückhaben, was ihr gehört. Und sie wollte mich.«
»Du hast doch mit deiner Mutter unter einem Dach gelebt«, erwiderte ich verwundert. »Ich kapiere nicht ganz, worauf du hinauswillst.«
Meine Worte führten Abby vor Augen, was wir alles nicht wussten – wie viel es zu erklären gab. »Marta war nicht meine richtige Mutter. Das haben sie zwar behauptet, aber das stimmte nicht.«
»Ich steige da nicht durch, Abby.«
»Marta war Daddys Frau.«
»Und wer ist deine Mutter?«
»Daddy hat viele Kinder, nur kannten wir uns früher nicht. Meine Mutter hat mich nie vergessen und ist dann gekommen, um mich und ihre Sachen zu holen. Ich wusste, wo das Versteck war, denn ich hatte die Sachen schon vor langer Zeit entdeckt. Verraten hab ich das keinem. Ich hatte Angst und behielt es für mich.«
Ich hatte den Eindruck, als würden wir uns im Kreis drehen. Doch ich war glücklich, dass Abby endlich ihr Schweigen brach. So blieb mir gar nichts anderes übrig, als mich in Geduld zu üben und zu warten, bis ihre Ausführungen einen Sinn ergaben.
»Wer ist deine Mutter?«
»Tina.« Sie sagte den Namen so, als bereitete es ihr große Freude, ihn laut auszusprechen. »Bis dahin hatte ich sie noch nie gesehen. Sie ist sehr hübsch.«
»Weißt du, wo sie sich jetzt aufhält?« Kaum waren mir die Worte über die Lippen gekommen, kannte ich die Antwort. Tina war die Tote von der Nevins Street. Ich erinnerte mich an ihren Nasenstecker, der in der Dunkelheit funkelte. An Abbys Stelle wäre ich auch mitten in der Winternacht und im Pyjama meiner wahren Mutter hinterhergelaufen, wenn sie urplötzlich gekommen wäre, um mich zu holen. Angenommen, ich hatte richtig kombiniert und bei der Toten von jener Nacht handelte es sich tatsächlich um Tina – wieso glaubte Abby dann an die Rückkehr ihrer Mutter? War Abby angefahren worden, bevor der Killer Tina tötete? In dem Fall hatte Abby keine Ahnung, dass ihre beiden Mütter tot waren.
»Was ist an dem Abend passiert, als Tina dich mitnehmen wollte?«
Abby begann zögernd, sprach jedoch zusehends mit festerer Stimme, als würden die schlimmen Erinnerungen, wenn sie sie laut aussprach, etwas von ihrer Macht einbüßen. »Sie haben sich gestritten. Tina hat behauptet, Daddy hätte sie hereingelegt. Sie warf ihm vor, er hätte mich ihr weggenommen, und verlangte, dass Mommy ... Marta ... erfährt, wo ich herkomme. Mommy wurde total sauer, als sie hörte, was Tina ihr erzählte.« Abby schloss die Augen, gab sich einen Ruck und fuhr fort: »Dann hat sie ihn übel beschimpft, und ich war so wütend auf ihn, dass ich ihn nicht in Schutz genommen habe.« Ihr Brustkorb hob und senkte sich immer schneller. Dann begann sie zu zittern und zu schluchzen. »Tina hat es mit der Angst bekommen und
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