Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
ich. »Wie Indien, Afrika und Thailand. Dort sind die größten Märkte, und da werden Opfer aus allen Teilen der Welt durchgeschleust.«
»Während meiner Zeit bei der Abteilung für häusliche Gewalt«, sagte Sam, »habe ich Prostituierte getroffen, die mir davon berichteten, dass einige ihrer Freundinnen verkauft wurden und auf Nimmerwiedersehen von der Bildfläche verschwanden. Einfach so. Wenn die Mädchen irgendwann wieder in New York landeten, haben wir sie verhaftet. Keiner interessierte sich für die Zuhälter oder Freier, weshalb alles beim Alten blieb.«
»Was für eine Scheiße«, schimpfte La-a.
»Was ist mit der Nutte auf der Nevins?«, wollte Mac wissen. »Stimmt ihre DNS mit einer der vermissten Mädchen überein?«
»Ich fände es besser, wenn ihr sie nicht mehr als ›Nutten‹ bezeichnen würdet«, platzte es aus mir heraus. Nutten. Huren. Fotzen. All diese Bezeichnungen waren durch und durch hässlich. Wie kam es nur, dass man diesen Frauen oder Mädchen so einen Stempel aufdrückte? Gab es eine gesellschaftliche Übereinkunft, eine geheime Absprache, die in der Sekundarstufe oder schon früher zum Tragen kam? Da fingen Mädchen an, sich aufzutakeln, um Anerkennung zu finden. Das war quasi der Startschuss. Nur dass sie nichts dafürkonnten.
La-a stärkte mir den Rücken. »Du hast recht. Das sind Sexarbeiterinnen.«
»Wenn man’s genau nimmt«, stellte ich klar, »sind sie Opfer des kommerziellen Sexgewerbes. Und nicht Arbeiterinnen, denn in meinen Augen ist das keine Arbeit.«
»Sie werden dafür bezahlt«, gab Billy zu bedenken.
»Die Zuhälter werden bezahlt«, korrigierte La-a ihn. »Und Menschen, die so etwas tun, sind keine Menschen. Das sind Schweine.«
Billy rieb sich das Auge. »Ich sage ja nur, dass es so gesehen wird, okay? Natürlich hast du recht, aber wir werden die Welt nicht ändern.«
»Und warum nicht?« Keiner ging auf meine Äußerung ein.
Schließlich beantwortete Billy Macs Frage. »Nein, das Opfer des kommerziellen Sexgewerbes auf der Nevins ist laut Datenbank keins von den vermissten Mädchen. Sie ist überhaupt nicht in unserem System zu finden.«
»Ein Kumpel von mir ist Polizist in Brasilien, in Rio«, bemerkte Vargas. »Ich rufe ihn an und bitte ihn, sich dort nach ihr zu erkundigen. Und ich wende mich an INTERPOL.«
»Bitte ihn, auch die Namen der anderen Opfer zu überprüfen«, sagte La-a.
Kopfschüttelnd klappte Vargas sein Handy auf. »All diese vermissten Kinder, die nach Hause kommen, nur um dort von einem dahergelaufenen Psychopathen mit einem Jagdmesser getötet zu werden.«
»Meinst du immer noch, das war irgendein x-beliebiger Psychopath, George?«, fragte La-a frustriert. Endlich schloss sie sich meiner Vermutung an, die auch ihre Kollegen von der SOKO teilten: Sie machten nicht Jagd auf einen »gewöhnlichen« Serienmörder. Die Person, die diese Frauen und womöglich die Dekkers auf dem Gewissen hatte, war kein Typ wie Patrick Scott, der einen sexuellen Kick suchte, oder wie der Privatier Antonio Neng, der Rache nehmen wollte und deshalb zum Stalker wurde. Nein, unser Mann hatte ein Geheimnis, das er mit aller Macht zu verbergen versuchte. Also Typen wie Pater X, Reed Dekker oder Steve Campbell. Wer kam sonst noch in Frage?
Und wir waren diesem Geheimnis auf die Spur gekommen, als wir den Deckel der kleinen Metallbox gelüftet hatten.
Vargas erreichte seinen Freund und unterhielt sich mit ihm auf Portugiesisch. Auch ohne den Inhalt seiner Worte zu verstehen, konnte man nicht überhören, mit welcher Dringlichkeit er sein Anliegen vorbrachte.
»Eins begreife ich nicht«, überlegte ich laut. »Was hatte Chali mit all dem zu schaffen? Meines Wissens nach wurde sie nicht verkauft ... jedenfalls nicht so. Im Alter von dreizehn Jahren hat man sie zwangsverheiratet. Zu der Zeit, als ihr Mann starb, war sie bereits Mutter, und kurze Zeit danach kam sie hierher, um als Kinderfrau zu arbeiten. Wie passt das alles zusammen?«
Sam zog das Besucherbuch der Kirche aus dem Karton und schlug es auf. »Das hier habe ich schon mal durchgeblättert«, meinte sie und kam auf mich zu. »Und da gibt es etwas, das ich Ihnen zeigen möchte.«
Sie tippte mit einem Finger auf einen Namen in dem Gästebuch: Chali Das. Diese Handschrift kannte ich nur zu gut. Das dazugehörige Datum stimmte mit dem Tag überein, an dem ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Als Grund ihres Besuches hatte sie Beichte eingetragen.
»Ich hatte keine Ahnung, dass Chali jemals zu
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