Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
er tot ist.«
Mac nahm ein Glas aus dem Schrank und hielt es unter den Wasserhahn. »Es ist mir einfach unbegreiflich ... Ich kannte Reed Dekker. Jedenfalls oberflächlich. Nie und nimmer wäre ich auf die Idee gekommen, dass er abartig veranlagt ist. Er schien patent, aufrichtig. Weißt du noch, wie ich damals aus dem Fitnessstudio kam und vorschlug, die Dekkers mal zum Abendessen einzuladen?«
»Ja, ich entsinne mich. Was noch ist all den anderen, die die Dekkers kannten, unbemerkt geblieben?«
»Um wie viel Uhr kommt Dathi von der Schule nach Hause?«, wollte Mac wissen.
»Halb vier, Viertel vor vier; je nachdem, welchen Bus sie kriegt. Vielleicht sollten wir sie lieber abholen.«
»Wozu das denn? Es geht doch nicht darum, ein Verbrechen zu verhindern. Wir wollen nur einen Mordfall lösen.«
»Bist du dir da wirklich so sicher?«
»Wir können jetzt nichts mehr tun, Karin. Und Dathi braucht nicht noch mehr Aufregung. Lass uns einfach warten, bis sie kommt.«
Widerstrebend machte ich mir seine Ansicht zu eigen.
Kurz nach halb drei tauchten Mary und Ben auf. Wir weihten sie ein und warteten dann gemeinsam. Und warteten.
Es wurde halb vier. Vier. Halb fünf. Kurz darauf hielt ich es nicht mehr aus und rief in der Schule an, wo man mir sagte, dass alle Kinder wie üblich gegen drei Uhr das Schulgebäude verlassen hatten.
Ich legte auf und drehte mich zu Mac und Mary um, die mich erwartungsvoll anschauten und von mir hören wollten, dass alles in Ordnung war.
»Irgendetwas stimmt nicht«, erklärte ich. »Das spüre ich. Mac, wieso haben wir ihr nicht ein Handy besorgt?«
»Solche Fragen bringen uns jetzt nicht weiter.«
»Dann könnten wir sie jetzt wenigstens anrufen oder per Satellit orten .«
»Ich finde, wir sollten Abby einen Besuch abstatten«, schlug Mary unvermittelt vor. »Keine Polizei. Nur Sie, Karin, und ich. Keine Männer.«
Mac zeigte mit einem Nicken, dass auch er Marys Idee für richtig hielt. Wann immer ein Mann in ihrem Krankenzimmer erschien, verfiel Abby in Apathie. Daher war es sinnvoll, dass nur wir Frauen ihr einen Besuch abstatteten. War ihre Furcht vor Steve Campbell oder Pater X der Grund für ihr Schweigen gewesen? Wusste sie überhaupt, dass die beiden Männer ihr nichts mehr antun konnten?
»Schreib Dathi eine Nachricht und leg sie auf den Tisch«, wies ich Mac an. »Und dann schnappst du dir Ben samt Roller und gehst mit ihm die Strecke bis zur Bushaltestelle ab. Vielleicht wurde sie ja irgendwo aufgehalten. Oder der Bus ist stecken geblieben, und sie wollte nicht warten, ist ausgestiegen und zu Fuß gegangen. Vielleicht hat sie sich dabei verlaufen.«
Zehn Minuten später fuhren Mary und ich im Taxi den FDR Drive entlang. Dem Fahrer stellten wir ein Extra-Trinkgeld in Aussicht, damit er aufs Gas drückte.
KAPITEL 23
Wir betraten das Krankenhaus durch die Drehtür, hetzten durch die Lobby und warteten eine gefühlte Ewigkeit auf den Fahrstuhl. Doch schließlich gelangten wir in Abbys Zimmer.
Bei meinem Anblick umspielte ein vages Lächeln ihre Lippen, das sofort verschwand, als sie Mary bemerkte, die ihr fremd war.
Dies blieb Mary nicht unverborgen. Anstatt sich neben mich ans Bett zu stellen, bewahrte sie Abstand zu Abby und ging in eine Ecke.
»Abby, Schätzchen«, begann ich, »hat man dir erzählt, dass du nicht bei den Campbells wohnen wirst?«
Abby schüttelte den Kopf, und ich hätte schwören können, dass diese Neuigkeit sie ein wenig aufmunterte. Ihre Reaktion bestärkte mich fortzufahren.
»Steve ist tot.«
Meine Worte schienen sie nicht zu beunruhigen – ganz im Gegenteil.
»Und Pater X wurde verhaftet«, fuhr ich fort.
Sie nickte knapp, atmete stockend aus.
»Allmählich gelingt es uns, die Puzzleteilchen zusammenzusetzen.«
Sie schloss die Augen.
»Kannst du reden, Schätzchen?«
Sie gab mir keine Antwort und zeigte auch keine Reaktion. Ich konnte nicht beurteilen, ob sie sich wieder in ihr Schneckenhaus zurückzog, ob sie wirklich nicht sprechen konnte oder ob sie nachdachte. Ich drehte den Kopf, warf Mary einen fragenden Blick zu und beschloss, eine andere Strategie anzuwenden.
»Abby«, sagte ich leise. »Das hier ist meine Freundin Mary. Sie ist auch Mutter.«
Abby hob die Lider. Mary schenkte ihr ein warmherziges Lächeln und breitete als Zeichen der Freundschaft die Hände aus, ohne sich von der Stelle zu rühren. Erst da bemerkte ich die beiden kleinen Tätowierungen – rechts eine Blume, links ein Smiley – auf ihren
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