Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
einer Kirche in unserem Viertel gegangen ist«, erklärte ich. »Sie hat mal von einer in ihrer Nachbarschaft gesprochen. Da sie sehr gläubig war, hat sie mit mir häufig über Religion gesprochen. Wäre sie in die St. Paul’s gegangen oder hätte sie Pater X gekannt, wüsste ich davon.«
Billy stellte sich hinter Sam, und gemeinsam sichteten sie die restlichen Einträge im Besucherbuch.
»Pustekuchen«, rief er. »Wie es aussieht, war sie nur einmal dort, oder sie hat sich nur einmal ins Besucherbuch eingetragen.«
»Was Regeln anbetraf, war Chali extrem pedantisch«, sagte ich. »Wäre sie öfter in dieser Kirche gewesen, hätte sie sich bei jedem Besuch eingeschrieben.«
Das Datum stimmte mit dem Tag überein, an dem Billy und ich die Dekkers tot in ihrem Heim vorgefunden hatten. Am gleichen Abend hatte Billy seine Auszeichnung erhalten. Tagsüber und abends hatte Chali sich um Ben gekümmert. War sie zusammen mit meinem Sohn in die Kirche gegangen? Der Gedanke ließ mich frösteln.
»Vielleicht hat sie gar nicht gebeichtet«, mutmaßte Vargas. »Was, wenn sie nur mit Pater X sprechen wollte? Es ist anzunehmen, dass er im Beichtstuhl saß, oder?«
»So hat man es uns wenigstens drüben in St. Paul’s erzählt.« Sam schlug das Buch zu.
»Mir wollte sie sich auch anvertrauen.« Ich ging um den Tisch herum, stellte mich vor die Stellwand mit den abscheulichen Fotos und hoffte auf eine Eingebung. Mein Blick fiel auf ein Foto von Chali, auf dem sie tot in ihrem Apartment lag. Ich erinnerte mich, dass erst am vergangenen Abend Dathi beteuert hatte, Abby wäre einmal Chali begegnet: Sie kannte meine Mutter.
Ich drehte mich zu Mac und Billy um. »Ich muss daheim etwas überprüfen. Und später sollten wir uns mit Dathi unterhalten. Meiner Meinung nach hat Abby ihr etwas Wichtiges verraten, das wir unbedingt in Erfahrung bringen sollten.« Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Kurz vor zwölf. In ein paar Stunden würde Dathi von der Schule nach Hause kommen.
Als Mac und ich daheim eintrafen, waren alle ausgeflogen. Mary und Ben mussten bei uns zu Mittag gegessen haben, denn auf dem Abtropfregal stand eine Bratpfanne, die am frühen Morgen noch nicht dort gewesen war. Dass sie ihm etwas gekocht hatte, bevor sie ihn zum Musikunterricht brachte, beruhigte mich.
»Chali hat hier irgendwo einen Kalender aufbewahrt.« Ich öffnete eine Küchenschublade.
»Warum das?«
»Weil sie ihren des Öfteren daheim vergessen hat.« Ich holte den kleinen Taschenkalender heraus und blätterte die Seiten durch. »Hin und wieder hat sie in unserem Viertel auf Kinder von anderen Leuten aufgepasst oder deren Wohnung geputzt ... Ich wüsste zu gern, ob ... Hier.« Ich zeigte ihm den Eintrag vom 24. Juli. »›Marta Dekker, 18 Uhr, 234 Bergen, Abby‹ Dann kannte sie tatsächlich Chali!« Ich blätterte den ganzen Kalender durch, ohne einen weiteren Termin bei den Dekkers zu finden. »Wie es aussieht, war das eine einmalige Sache.«
»Worüber wollte Chali wohl mit Pater X reden?«, fragte Mac.
»Dathi behauptet übrigens, Abby wäre davon überzeugt, dass ihre Mutter sie holen kommt. Ich hielt das natürlich für ein Hirngespinst von Dathi, weil Abby beharrlich schweigt. Aber was, wenn Abby tatsächlich mit Dathi gesprochen hat? Was, wenn das, was sie gesagt hat, wahr ist? Und was, wenn sie ihr alles über ...«
Ich brachte es nicht über mich, das laut auszusprechen, was auf den Fotos aus der Metalldose zu sehen gewesen war. Es bestand die große Wahrscheinlichkeit, dass Abbys Vater alles andere als ein unschuldiges Opfer war. Daher musste man auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass seiner Tochter sexuelle Gewalt angetan worden war; zumal manches an ihrem Verhalten darauf hindeutete: die Art und Weise, wie sie sich in Gesellschaft von Erwachsenen benahm, die unverkennbaren Anzeichen eines psychischen Traumas ... Ihre Miene, ihr Schweigen sprachen Bände. Hatte Chali an jenem Abend beim Babysitten zufällig etwas mitbekommen, das sie erst nach dem Tod der Dekkers richtig einordnen konnte? Bei unserem letzten Zusammentreffen hatte sie ziemlich aufgewühlt gewirkt und mit mir über etwas sprechen wollen. Hatte sie sich stattdessen an Pater X gewandt? Einem Priester hätte sie sich vorbehaltlos anvertraut. Und hatte sie für ihre Arglosigkeit am Ende mit dem Leben bezahlt?
»Morgen hätte Abby eigentlich bei den Campbells einziehen sollen.« Mich schauderte. »Steve Campbell, Saubermann und Lehrer. Ich bin froh, dass
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