Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
leer stehenden Haus wie diesem lag der Verdacht nahe, dass sich hier Nagetiere eingenistet hatten.
Nur dass das nächste Geräusch auf gar keinen Fall von einer Maus stammen konnte.
»Hallo? Ist jemand da?«, fragte eine mir vertraute Stimme leise.
»Dathi?«
»Karin ... hier drinnen.«
»Wo?«
»Drück gegen die Innenwand ... gegen die mit dem Aufkleber.«
Links oben klebte ein Sticker von einer Bank, den ich übersehen hatte. Als ich die Hand darauflegte und fest dagegendrückte, spürte ich unter dem Aufkleber irgendetwas Metallisches.
Die Wand gab einen Spaltbreit nach. Nun konnte ich meine Finger in den Schlitz zwängen, die Öffnung vergrößern und den dahinterliegenden Raum mit der Taschenlampe ausleuchten. Dathi, deren Kopf die niedrige Decke berührte, saß im Schneidersitz auf dem Boden. Nach ihrem verquollenen Gesicht zu urteilen, hatte sie geweint.
»Ich habe die Tür hinter mir zugezogen, damit mich keiner sieht, und bekam sie später nicht mehr auf. Abby hätte mich davor warnen müssen.«
»Wer hätte dich denn hier drinnen sehen sollen?«
»Keine Ahnung. Sie hat mir eingebläut, vorsichtig zu sein. Sieh mal.«
Ich richtete das Licht auf den Bereich hinter ihr, der ein gutes Stück weiter spitz zusammenlief. Vor der Wand stapelten sich Schuhkartons und ein paar größere Kisten älteren Datums. Offenbar hatte Dathi während ihrer Suche ein paar Kartons geöffnet.
Mit zitternden Händen hielt sie eines von diesen dünnen Fotoalben hoch, die verschenkt wurden, wenn man im Drogeriemarkt Abzüge von seinen Fotos machen ließ. »Hier drinnen sind Babyfotos von Abby und ihrer Mutter – ihrer richtigen Mutter. Sie erinnern mich an meine Babyfotos. Unsere Mütter waren bei unserer Geburt beide noch Teenager.«
Dann hob Dathi eine verblichene Stoffpuppe auf, die neben ihr lag und deren aufgemaltes Gesicht nicht mehr zu erkennen war. »Ich glaube, das ist die Puppe, die Abby meinte. Sie sagte, die Puppe gehöre ihr und habe früher ihrer Mutter gehört. Zuerst habe ich aber andere Fotos gefunden, Karin ... in den Kartons.« Die Erinnerung an das, was darauf abgelichtet war, ließ ihre Miene erstarren.
Auf dem Boden hinter ihr waren überall Aufnahmen aus den durchsuchten Kartons verstreut: dem ersten Eindruck nach Variationen von den Abscheulichkeiten aus der Metallbox, die in der Kirche gebunkert gewesen waren. Auf zwei Fotos waren Männer in schwarzen Priesterroben, die jeweils eine weiße Halloweenmaske trugen – genau von der Art, die Joey Esposito erwähnt hatte.
»Danke, dass du mich gerettet und aus Indien hierhergeholt hast, damit ich nicht ... Ich mache mir große Sorgen um Oja.«
»Ojas Familie wird sie beschützen.«
»Wieso hat meine Familie mich nicht beschützt?«
»Darüber können wir uns später unterhalten.« Anstatt mich in einer Hasstirade über Onkel Ishat zu ergehen, streckte ich die Hände aus, um ihr aus dem Abstellraum zu helfen. Ihre Finger waren klebrig-feucht, als hätte sie etwas Schmuddeliges angefasst.
Kaum hatte sie sich ein paar Zentimeter bewegt, hörten wir Schritte.
»Das ist nur Mary«, flüsterte ich, obwohl ich mir dessen ganz und gar nicht sicher war. Marys Stiefel hatten Kreppsohlen und hätten eigentlich nicht solche Geräusche machen dürfen.
»Karin?«, rief Mary vom unteren Treppenabsatz im Erdgeschoss hoch. Anscheinend hatte sie die Schritte auch gehört.
Das Klacken verstummte.
»Ich habe Angst«, sagte Dathi.
Ohne zu überlegen, legte ich ihr die Hand auf den Mund, schaltete die Taschenlampe aus und zog die Innentür fest zu. Damit saßen wir beide in der Falle. Wir hörten, wie jemand die Abstellkammer durchsuchte.
»Ach, Scheiße.«
Das war Billy.
Ich drückte meine Hand noch fester auf Dathis Mund.
»Scheibenkleister.« Er klang ziemlich erbost.
»Billy?«, fragte Mary hinter der Wand.
Unter lautem Getöse stapfte Billy aus der Abstellkammer und richtete sich draußen, wie man hören konnte, ungelenk zu voller Größe auf.
»Mary? Was haben Sie hier zu suchen?«
»Ich bin mit ...« Sie beendete den Satz nicht.
Und ich fürchtete, mein Herz würde zerspringen.
Billys polternde Schritte und etwas Schweres, das zu Boden fiel, ließen uns zusammenzucken.
Falls er Mary etwas angetan hatte ... Falls er ihr tatsächlich etwas angetan hatte ... Fuchsteufelswild sah ich zu Dathi hinüber und legte den Finger auf den Mund: keinen Ton. Dann griff ich nach der Taschenlampe, beugte mich so weit wie möglich nach hinten und trat die Tür
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