Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
zu ihm und lauschte, wie er begeistert von dem roten Sportwagen redete, den er tags zuvor auf der Straße gesehen hatte. Er stand generell auf Autos, und ganz besonders auf schnelle. Heute fiel es mir allerdings schwer, mich auf sein Geplapper zu konzentrieren, denn in Gedanken kehrte ich zu den Ereignissen der vergangenen Nacht und zu dem Mädchen auf dem Gehweg zurück. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund wurde mir jedes Mal, wenn ich an ihre blau lackierten Nägel dachte, ganz mulmig.
»Kawumm!« Ben holte einen gelben Sportwagen aus der Brusttasche seines Schlafanzugs und ließ ihn über den Tisch brausen. Plötzlich flog das Spielzeugauto durch die Luft und landete in seinem Orangensaftglas. »Mami, sieh doch! Maretti kann schwimmen!«
»Maretti« war eine Verschmelzung von Vor- und Nachnamen des berühmten Rennfahrers Mario Andretti. Bedauerlicherweise gab es erste Anzeichen, dass Ben nach mir kam und eine Schwäche für alles hatte, was nach Gefahr roch.
»Maretti muss jetzt ein Bad nehmen.«
»Nein, es gefällt ihm.«
Er trank seinen Saft aus, ohne das Auto aus dem Glas zu fischen, das ich dann ausspülte und zum Trocknen auf das Abtropfregal stellte. Anschließend machte ich Ben für den Kindergarten fertig. Unsere Teilzeitbabysitterin Chali holte ihn dort um zwölf Uhr ab und verbrachte den Nachmittag mit ihm, sodass ich Mac bei seiner Arbeit unterstützen, Seminare belegen oder beides tun konnte. Heute freute ich mich allerdings schon darauf, mich schlafen zu legen, nachdem ich ihn im Hort abgeliefert hatte. Er setzte seinen Helm auf und ließ sich von mir die Jacke und Fäustlinge anziehen. Ich trug sein Bobby-Car die Treppe hinunter, dann gingen wir aus dem Haus und genossen den strahlenden Wintermorgen. Die dünne Eisschicht, die das Fortkommen vergangene Nacht so erschwert hatte, war in der Sonne geschmolzen. Dafür war ich sehr dankbar, denn ich hätte dem Jungen nicht erlauben dürfen, mit dem Spielauto auf spiegelglatten Wegen zum Kindergarten zu fahren – und es hatte bisher jedes Mal Streit gegeben, wenn ich so etwas Ben ausreden musste.
So aber lief ich munter hinter Ben her, der wie eine Rakete die Smith Street hinunterschoss, und musste mehreren Passanten ausweichen, die ihm Platz machten. Da Ben im Gegensatz zu vielen seiner Altersgenossen nicht unter Trennungsängsten litt, löste die morgendliche Verabschiedung im Kindergarten glücklicherweise kein Drama aus. Ich brauchte ihn nur in seinem Raum abzuliefern und war drei Minuten später schon wieder zur Tür hinaus.
Auf dem Rückweg erblickte ich mehrere Menschen, die mir früher schon aufgefallen waren, wenn ich ausnahmsweise Ben zum Kindergarten gebracht hatte. Offenbar gehörte es zu den festen Abläufen ihres Alltags, um diese Uhrzeit hier zu sein: der Mann im Businessanzug und offenen Mantel, der zur U-Bahn hastete; die junge Frau mit den pelzbezogenen Kopfhörern, die ganz gemächlich ging; der alte Dominikaner mit der blauen Strickmütze, der auf einer Bank vor dem italienischen Restaurant saß; drei Männer in den Vierzigern, die mich an die drei Musketiere erinnerten und immer wie aus dem Ei gepellt wirkten, aber mit ihren Hüfthosen, den grellbunten Turnschuhen und den schräg auf den Köpfen sitzenden Baseballkappen viel zu jugendlich gekleidet waren.
Als ich schließlich die letzte Kreuzung erreichte und in die Bergen Street einbog, dachte ich nur noch an eines: an Schlaf.
* * *
Stunden später wachte ich in einem siedend heißen Bett auf, das sich klaustrophobisch anfühlte. Mac lag so reglos neben mir, dass ich annahm, er schliefe tief und fest. In dem Raum war es unglaublich stickig, was kaum verwunderte, da Mac stark schwitzte und wir im Winter immer nur kurz lüfteten. Ich strampelte die Decke weg, streckte mich genüsslich und gähnte laut.
»Du bist wach«, bemerkte er mit dünner, heiserer Stimme.
Ich stützte mich auf meine Ellbogen und warf einen Blick auf die grüne Anzeige der Digitaluhr. »Es ist schon nach eins. Sind Ben und Chali da?«
»Schon ’ne ganze Weile.«
Ich legte mich wieder auf den Rücken. »Gut.«
»Und?«
»Wie fühlst du dich?«
»Beschissen. Was ist gestern Nacht passiert?«
»Puh ... das willst du gar nicht wissen.«
»Doch, sonst hätte ich ja nicht gefragt.« Ein Hustenanfall ließ ihn verstummen. Ich ging ins Badezimmer und brachte ihm ein frisches Glas Wasser. Er setzte sich auf, trank gierig und starrte mich dann an. »Jetzt erzähl schon. Ich muss meine Stimmbänder
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