Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
die traditionellen Medien auf das Thema stürzen würden.
»Das Mädchen wurde ins New York Presbyterian Hospital in Manhattan gebracht«, berichtete ich Mac und scrollte nach unten. »Sie heißt Abby Dekker, ist elf Jahre alt, besucht das Packer Collegiate und geht in die fünfte Klasse. Sie und ihre Eltern wohnen hier in Boerum Hills.«
»Dekker«, meinte Mac nachdenklich. »Da läutet etwas bei mir.«
Ich überflog die Seite. »Hier steht, dass sie nicht bei Bewusstsein ist. Man hat sie in ein künstliches Koma versetzt, um auf diese Weise die Schwellung zu vermindern, die von einer Kopfverletzung stammt.«
»Armes Ding.«
»Sie war noch so jung.«
»›Ist‹, nicht ›war‹«, korrigierte er mich. »Immerhin lebt sie ja noch.«
»Ihre Eltern müssen krank vor Angst sein.«
»Google mal Dekker. Mich interessiert, was die Suche ergibt. Irgendwie kommt mir der Name bekannt vor.«
Mac rückte näher und fixierte den Bildschirm, während ich die Enter-Taste drückte. Die ersten drei Treffer verwiesen auf einen Bestsellerautor, der Thriller schrieb, einen Staubsaugerhersteller und eine Managementfirma. Wir klickten den vierten Eintrag an, der uns zum professionellen Internetauftritt eines Unternehmens führte. Auf dieser Website war das offizielle Mitarbeiterprofil von einem gewissen Reed Dekker eingestellt. Ein typisches Bewerbungsfoto zeigte einen Weißen mittleren Alters mit ordentlich gescheitelten braunen Haaren. Er sah ziemlich gut aus, wirkte seriös und hatte ein triumphierendes Funkeln in den Augen.
»Ich wusste es!«, rief Mac.
Ich warf meinem Mann, dessen Miene erstrahlte, einen verwunderten Blick zu. »Du kennst ihn?«
»Das ist Reed. Ich unterhalte mich öfter mit ihm im Fitnessstudio. Er hat mir erzählt, er würde bei einer Bank arbeiten.«
Wir studierten das Profil. »Na, da hat der Mann aber ganz schön tiefgestapelt, Mac. Schau mal. Er ist Senior Vice President bei Goldman Sachs.«
»Du machst Witze, oder?«
»Weißt du, was solche Typen verdienen? Millionen, Riesenbonus inklusive. Ich wusste ja gar nicht, dass du im Fitnessstudio mit Superreichen verkehrst.«
»Wir schwitzen gemeinsam auf irgendwelchen Crosstrainern, mehr nicht.«
Ich las Reed Dekkers Biographie. »Hier steht es ... Er wohnt mit Frau und Tochter in Brooklyn Heights. Das ist komisch. In den Blogs stand, Abby Dekker würde in Boerum Hills leben. Was stimmt jetzt?«
»Sie wurde in Boerum Hills angefahren ...« Er brach ab, um einen Schluck Wasser zu trinken.
»Und zwar mitten in der Nacht. In dem Fall passt Boerum Hills besser. Hat Reed Brooklyn Heights in seiner Biographie erwähnt, weil es vornehmer klingt? Wie auch immer, er könnte es sich auf jeden Fall leisten, in den Heights zu wohnen.«
»Ich mochte den Typen.«
»Er ist auch nicht tot«, erinnerte ich Mac, wohl wissend, weshalb ihm dieser Versprecher unterlaufen war. Tragödien verändern Familien. Das einzige Kind der Dekkers, von einem Auto angefahren und ernsthaft verletzt, lag nun im Koma. Als Vater konnte Mac durchaus nachempfinden, was sein Kumpel aus dem Fitnessstudio gerade durchmachte.
»Stimmt schon. Reed Dekker ist nicht -« Ein Klopfen an unserer Schlafzimmertür ließ ihn innehalten.
»Ben?«, rief ich. »Chali?«
»Ich habe Sie reden gehört«, ertönte Chalis gedämpfte Stimme im Flur.
»Herein.« Ich schwang meine Beine über die Bettkante, setzte mich hin, schaltete meine Nachttischlampe an und wartete.
»Leg deine Hand auf den Knauf«, hörte ich sie in diesem ungezwungenen Ton sagen, den sie bei Ben immer anschlug. »Braver Junge. Und nun drehen.«
Da nichts passierte, erhob ich mich, um die Tür zu öffnen. Chali stand im Flur und hielt ein Tablett mit zwei dampfenden Schüsseln in ihren Händen. Wie üblich hatte sie die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Trotz der zierlichen Figur und den funkelnden braunen Augen konnte man sie nicht als klassische Schönheit bezeichnen. Allerdings versprühte sie viel Energie und Optimismus, was einem Wunder gleichkam angesichts der Tatsache, dass sie in Indien eine Harijan, ein »Kind Gottes«, gewesen war, also den Kastenlosen angehörte. Dieser menschenunwürdigen Ausgrenzung war sie durch ihre Umsiedlung in den großen Schmelztiegel New York City entkommen.
Mit gerade einmal sechsundzwanzig Jahren war Chali eine weitere Witwe in meinem direkten Umfeld, auch wenn ihre Witwenschaft sich stark von der meiner Mutter oder meiner eigenen unterschied. Im zarten Alter von vierzehn
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