Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
benennen?«
»Billy«, ermahnte ich ihn, »sie müssen tun, was für Abby am besten ist.«
Sasha überlegte kurz. »Ich kann Sie ein paar Minuten zu ihr lassen«, bot sie uns an.
»Das wäre ganz wunderbar«, sagte ich.
»Warten Sie kurz.« Vorsichtig öffnete sie Abbys Tür, warf einen Blick in das Krankenzimmer und bedeutete uns dann, ihr zu folgen.
Vergangene Nacht hatte ich, überwältigt von dem Umstand, dass es sich um zwei Tatorte handelte, nicht sofort erkannt, dass es sich bei dem Unfallopfer um ein Kind handelte, doch hier stach es einem sofort ins Auge. In dem großen weißen Krankenhausbett wirkte ihr schmaler, zerbrechlicher Körper, gefangen in einem Wirrwarr aus Gipsverbänden, Bandagen und Schläuchen, beinahe verloren. Ihr linkes Bein, vom Fußgelenk bis zur Hüfte eingegipst, sodass nur die verschiedenfarbig lackierten Zehennägel zu sehen waren, ruhte auf der Decke. Ihre Arme lagen reglos neben dem Körper. Als mein Blick auf ihre blauen Fingernägel fiel, verspürte ich wieder ein merkwürdiges Gefühl. Ihre Rippen wurden von dem Krankenhausnachthemd verdeckt, während das linke Schlüsselbein, von blauen Flecken überzogen und gebrochen, unter dem durchsichtigen medizinischen Klebeverband deutlich zu erkennen waren. Man hatte ihr den Schädel kahl rasiert, und ein weißer Mullturban verbarg die Kopfverletzungen. Die Blutergüsse auf der linken Gesichtshälfte waren schwerer als die auf der rechten. Entweder hatte der Fahrer sie links erwischt, oder sie war nach dem Zusammenstoß auf diese Seite gefallen. Eine Mund- und Nasensonde mündete auf ihrer Brust in dickere Schläuche, die mit lebenserhaltenden Maschinen verbunden waren.
Sasha warf mir einen vielsagenden Blick zu, woraufhin ich mein Pokerface aufsetzte und in mein Alter Ego schlüpfte, in die knallharte Polizistin, die alles wegsteckte – oder sich das zumindest einbildete. Nun verstand ich, weshalb Sasha uns erlaubt hatte, Abbys Zimmer zu betreten: Der erbarmungswürdige Zustand der Kleinen überzeugte selbst den größten Skeptiker davon, dass ihr Leben an einem seidenen Faden hing. Am liebsten hätte ich das bemitleidenswerte, mutter- und vaterlose Mädchen in die Arme geschlossen, doch das war natürlich vollkommen unmöglich. Der Gedanke, dass man sie irgendwann aus dem künstlichen Koma holen und ihr erklären würde, dass ihre Eltern tot waren, stimmte mich unendlich traurig.
Oder wusste sie schon, was geschehen war?
Was wusste sie überhaupt?
Das war hier die große Frage.
KAPITEL 5
Ein ohrenbetäubendes Pfeifen hallte durch die Turnhalle des CVJM, woraufhin ein kleiner grauhaariger Mann, der unter dem Basketballkorb stand, zusammenzuckte und auf Distanz zum Mikrophon ging. In seiner Funktion als Vorsitzender des Komitees koordinierte Howie Marcus die Kommunikation zwischen dem 84. Polizeirevier und den Bewohnern des Stadtviertels. Welchen Beruf er ausübte, wusste ich nicht, doch es war offensichtlich, dass er es nicht gewohnt war, in ein Mikrophon zu sprechen. Während die drei Polizisten, die hinter Marcus standen, sich trotz des Lärms nicht rührten, presste einer der Gäste – er hatte breite Koteletten und saß in der mittleren Reihe auf einem Klappstuhl – die Hände auf die Ohren, bis die Lautsprecheranlage so eingestellt wurde, dass es keine Rückkopplungen mehr gab. La-a saß ein paar Reihen weiter vorn zwischen zwei Jungs, wahrscheinlich ihre Söhne. Dass sie in ihrer Freizeit hierherkam, um Billy bei der Preisverleihung moralisch zu unterstützen, überraschte mich keineswegs, denn tief in ihrem Innern war sie trotz ihrer harten Schale eine gute Seele.
»So ist es besser«, verkündete Howie. »Jetzt können wir fortfahren. Wie ich bereits sagte oder sagen wollte ...« – er hielt kurz inne, weil ein paar Zuschauer lachten -, ». ehe ich das Mikrophon Detective Gates überlasse, also ... Ich möchte unsere Jugendlichen eindringlich bitten, nicht zu rauchen, und die Eltern daran erinnern, dass sie eine Vorbildfunktion haben und besser auch auf Zigarettenkonsum verzichten. Detective Gates?«
Ein Mann in dunklem Anzug und pinkfarbenem Hemd sowie mit einer Pistole, die am Gürtel befestigt war, nahm Howies Platz unter dem Basketballkorb ein. Dass man sich in dieser weitläufigen Turnhalle ausgerechnet für diese Stelle als Rednerplatz entschieden hatte, amüsierte mich: Irgendein Schlaumeier war auf die kuriose Idee gekommen, direkt unter dem Korb das Mikrophon für die Redner und davor zwei Reihen
Weitere Kostenlose Bücher