Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
Reportern.
»Ein Kommentar zu den Morden, die in direkter Nachbarschaft verübt wurden«, fragte eine Frau mit riesiger Pelzmütze, »und zu dem Mädchen, das etwa zur selben Zeit angefahren wurde?«
Billy warf ihr einen bitterbösen Blick zu, ehe er den Lift betrat und mit mir in den fünften Stock fuhr.
Wir blieben im Flur vor Abbys Privatzimmer stehen. Man hatte Billy gebeten, auf jemanden zu warten, der uns über alles Wesentliche informieren würde, vor allem über die Grundregeln im Umgang mit Komapatienten im Allgemeinen und mit dieser Patientin im Besonderen. Ich verabscheute Krankenhäuser mit ihren Hochglanzböden, der schauerlichen, von einzelnen Schreien durchbrochenen Stille und dem grauenvollen antiseptischen Chaos. Das einzige nicht traumatische Ereignis in einem Hospital war die Geburt eines Kindes, und selbst da konnte einiges schiefgehen. Kurz dachte ich an den letzten Oktober – an Julie, Marisa oder Zoe – und kämpfte angesichts des emotionalen Aufruhrs, von dem ich in Augenblicken wie diesem heimgesucht wurde, gegen die Tränen an. Als ich mich wieder einigermaßen im Griff hatte, verspürte ich ein Hochgefühl, dem jedoch gleich schiere Verzweiflung folgte. Manchmal wünschte ich mir mein Prozac zurück, das bei mir nicht so richtig funktioniert oder wenigstens nicht das erwartete Resultat geliefert hatte. Ich schaute auf Billy, der mit geschlossenen Augen an einer Wand lehnte, und überlegte, ob ihm wohl Antidepressiva helfen könnten.
Schließlich näherte sich uns eine Frau mit ausgestreckter Hand. Billy hörte ihre Schritte, öffnete die Augen und ging auf sie zu.
»Ich bin Sasha Mendelsohn. Entschuldigen Sie, dass das so lange gedauert hat.« Sie war klein, hatte kurzes rotes Haar, Sommersprossen und trug einen weißen Kittel mit Namensschild, auf dem kein Doktortitel vermerkt war. »Ich weiß nicht, ob man Ihnen am Empfang erklärt hat, dass ich als Abbys medizinische Betreuerin fungiere. Falls Sie also Fragen oder Bedenken haben oder mit einem Arzt sprechen möchten, dann wenden Sie sich bitte an mich, und ich, ähm, kümmere mich darum.«
»Detective Staples, Brooklyn, 84. Polizeirevier.« Billy schüttelte ihre Hand. »Das hier ist Karin Schaeffer, die mich in diesem Fall berät. Wir waren beide gestern Nacht am Unfallort und gehen der Sache nun nach. Können wir sie sehen?«
»Wir sind uns darüber im Klaren, dass Sie die Kleine befragen möchten«, antwortete Sasha. »Aber Sie müssen sich leider gedulden, bis wir sie aus dem Koma holen. Momentan ist ihr Zustand noch sehr kritisch.«
»Haben Sie eine Ahnung, wie lange das dauern wird?«
»Ich wünschte, ich könnte Ihnen eine Antwort auf diese Frage geben.« Ihr Blick ruhte auf Billys Augenklappe. »Wie haben Sie das Auge verloren?«
»Was bringt Sie denn auf die Idee, ich hätte es verloren?«, entgegnete er schneidend. Ihre direkte, wenig feinfühlige Frage rechtfertigte seinen Tonfall.
»Die Augenklappe.«
»Was, wenn ich mit einem blinden Auge auf die Welt gekommen bin oder eine bakterielle Infektion habe?«
»In beiden Fällen tragen die Betroffenen nach meiner Erfahrung keine Augenklappe.«
»Ich will nicht darüber reden.«
»Tut mir leid, dass ich das Thema angesprochen habe ... Ehrlich. Es geht mich nichts an.«
»Wann können wir mit Abby sprechen?«
»Das kann Tage oder gar Wochen dauern.«
»Womöglich ist sie unsere einzige Zeugin. Sie ist noch jung und schwer verletzt, das ist uns bewusst. Doch die Zeit drängt.«
»Lassen Sie es mich Ihnen erklären«, begann sie, während ihr Blick zwischen uns beiden hin- und herwanderte. »Sie wurde in ein künstliches Koma versetzt, um eine potenzielle Schädigung des Gehirns zu verhindern. Das Koma hilft, die Schwellung zu verringern, die wiederum die Blutversorgung des Gehirns beeinträchtigen könnte, was lebensbedrohlicher wäre als alle anderen Verletzungen. Es handelt sich also um eine Vorsichtsmaßnahme, um den Gesamtorganismus zu entlasten. Leider hat sie noch weitere Traumata. Eines ihrer Beine ist gebrochen und wurde eingegipst. Zudem sind vier Rippen und das Schlüsselbein gebrochen, worum wir uns ebenfalls gekümmert haben. Damit die Brüche heilen, muss Abby ruhiggestellt werden. Das Koma stellt ihren Körper und ihr Gehirn ruhig. Derzeit ist dies die einzig probate Vorgehensweise.«
»Gut.« Billy bemühte sich zwar, Verständnis zu zeigen, doch sein grantiger Ton entlarvte ihn. »Können Sie den Zeitrahmen nicht etwas genauer
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