Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
den Beatles gemocht hatte, überraschte mich zugegebenermaßen. Doch je länger ich ihre Habseligkeiten durchsah und je mehr ich so über Chalis Leben und Vorlieben erfuhr, desto bewusster wurde mir, dass ich sie eigentlich kaum gekannt hatte.
Nach dem Manuskript zu urteilen, das mir bei meinem letzten Besuch aufgefallen war, hatte sie sich als Dichterin versucht. Ich überflog ein paar Verse und erfuhr, dass die fest im christlichen Glauben verhaftete Chali eine ketzerische Ader besessen hatte. Ihre Einwände gegen die traditionelle Lehre waren praktischer, nicht theoretischer Natur, und ihre auf Englisch verfassten Gedichte legten den Schluss nahe, dass sich ihre Einstellung gegenüber der Gesellschaft seit ihrer Ankunft in Amerika verändert hatte. Die Ballade Arundathi, benannt nach ihrer Tochter, erregte meine Neugier.
Ihretwegen sage ich:
Bitte sie nicht, die Augen zu öffnen,
ehe sie
dazu bereit ist.
Ihretwegen sage ich:
Versuch nicht, sie zu erreichen,
ehe sie
zu dir kommt.
Ihretwegen sage ich:
Beachte sie bitte nicht
Und lass uns beide
wiederauferstehen.
Da ich weder Lyrikerin war noch Gedichte las, stand mir kein Urteil zu. Sie bediente sich einer knappen, einfachen Sprache. Ob dieses Werk gut war, lag nicht in meinem Ermessen, aber irgendetwas daran rührte mich. Das Gedicht handelte von Chalis Leben in Indien, das sie hinter sich gelassen hatte, und verlieh ihrer Hoffnung Ausdruck, Dathis Kindheit möge nicht so unvermittelt und grausam enden wie ihre eigene. Mütter wünschen sich nun mal für ihre Kinder nur das Beste, und Chali bildete da keine Ausnahme.
Ihre ordentlich niedergeschriebenen Werke steckte ich in einen großen Briefumschlag, den ich in der Schreibtischschublade fand. Dathi, die ebenfalls Gedichte schrieb, würde die Arbeiten der Mutter sicherlich gern lesen.
Begleitet von Something (in the way you move) und Maxwell’s Silver Hammer, machte ich mich an die Arbeit.
Zuerst packte ich alles ein, was mir wichtig erschien: den Umschlag mit den Gedichten, drei aufwendig gearbeitete Seidensaris in Smaragdgrün, Rubinrot und Gold, eine wunderhübsche, türkis und orange emaillierte Haarspange, ein paar Zierkissen, die auf dem Bett lagen, ein paar traditionelle Ledersandalen, vermutlich noch aus Indien, sowie eine kleine, abgegriffene Bibel, in die sie ihren Namen geschrieben hatte. Und dann verstaute ich noch zwei in buntes Papier gewickelte Weihnachtsgeschenke, auf denen Dathis Name stand, in der Tüte.
Anschließend legte ich Benny Goodman ’s Greatest Hits auf und nahm mir das zusammengewürfelte Geschirr in Chalis kleiner Küche vor. Inspiriert von Goodmans Klarinette, schweifte ich in Gedanken ab und gab mir schließlich einen Ruck. Ich musste mich auf das Hier und Jetzt konzentrieren und durfte nicht zulassen, dass die vielen schrecklichen Geschehnisse der jüngsten Vergangenheit mich von meinen Pflichten ablenkten.
Erneut hielt ich mir die schlimmen Vorfälle vor Augen:
Die immer noch nicht identifizierte Tote auf der Nevins Street.
Abby Dekker, die im Krankenhaus um ihr Leben kämpfte und an deren Bett der Pfarrer ihrer Eltern Wache hielt.
Chali, die in ihrem eigenen Blut badete.
Dathi im fernen Indien, urplötzlich verwaist.
Antonio Neng, der Stalker, der Banker hasste.
P-patrick S-scott. Vor allem Patrick Scott. Wann immer ich an diesen Mann und seine abwegigen Gelüste dachte, seine Suche nach etwas anderem, schlug mein Herz schneller.
Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen:
Chalis Erfahrungen als Kinderbraut – ein Schicksal, das Dathi möglicherweise drohte, wenn sie zu lange in Indien blieb -, Patrick Scotts Lust auf etwas anderes gerade in dem Moment, als er die elfjährige Abby allein auf der Nevins Street erblickte, verschwundene Mädchen, ein Serienmörder, der Prostituierte tötete – alles nur Teile eines einzigen Puzzles.
Daran, dass er schuldig war, hatte ich keinerlei Zweifel: sein Doppelleben, seine Gewissensbisse, seine Wut, der Umstand, dass er wie alle Freier seine gewalttätige Natur an Frauen (und Mädchen) auslebte, die er gleichzeitig begehrte und hasste. Sollte es sich dabei nicht um expliziten Selbsthass handeln – was war es dann?
Keine Frage, er war der Prostituiertenmörder.
Falls mein Instinkt mich nicht trog und er der Killer war, arbeitete er allein. Damit war das größere Problem noch nicht gelöst. Wie und wo wurden die verschwundenen Mädchen verhökert? Warum kamen sie später auf so brutale Weise zu Tode? Wer hatte
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