Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
dem Laufenden?«
»Ich bin nicht mehr bei der Polizei.«
»Was Sie nicht sagen.«
»Und?«
»Was auch immer Billy und Lalala Ihnen zugeflüstert haben, entspricht den Tatsachen. Wir unterstützen uns gegenseitig, und sie wissen alles, was ich weiß.«
»Danke.« In Wahrheit war ich ihm natürlich nicht dankbar. Ich hielt ihn für überheblich und unhöflich, außerdem gab er mir das Gefühl, überflüssig zu sein.
»Gern geschehen.« Er meinte das auch nicht ernst.
Wir legten gleichzeitig auf.
* * *
Ein zahnloser Bettler mit Nikolausmütze baute sich in der U-Bahn vor mir auf und hielt mir seine Hand hin: eine schrundige Kartographie seiner Fehlschläge, vergilbt von seiner Sucht, trocken und spröde, mit durchscheinenden braunen Hautschuppen auf aufgedunsenem pinkfarbenem Fleisch.
»Für die Kinder«, murmelte er und suchte meinen Blick, während ich mich beharrlich weigerte, ihm ins Gesicht zu sehen. Hoffentlich log der Mann und hatte keine Kinder. Ich griff in meine Tasche, fand eine Dollarnote und gab sie ihm, nur damit er weiterging. Er zwängte sich durch den Waggon zu den nächsten Fahrgästen, bis nur noch ein übler Geruch an ihn erinnerte.
Ein Stück weiter stand eine junge Frau mit roter Jacke, roter Mütze und rotem Schal, die mich anlächelte. Ich lächelte zurück. Neben ihren Füßen entdeckte ich vier überquellende Einkaufstüten. Aus einer ragten zwei Rollen buntes Geschenkpapier, die mich den Mann, den Geruch und diese traurige Begegnung vergessen ließen.
Chalis Haltestelle war die nächste. Ich stieg aus.
Heute war es sonniger und wärmer als an den vergangenen Tagen. Auf der 4th Avenue schmolzen die Schneeberge, die uns der Sturm vom Sonntag beschert hatte. Durch das ständig von den Vordächern und Baugerüsten tropfende Wasser hatte ich das Gefühl, es würde regnen, obgleich der Himmel vollkommen klar war. Die Sonne blendete mich, als ich in Chalis Straße bog. Ich hob die Hand, um meine Augen abzuschirmen, und wäre beinahe mit zwei Jungen zusammengestoßen, die laut miteinander redeten und sich gegenseitig Karten zeigten. Dennoch waren sie geistesgegenwärtig genug, um mir in allerletzter Sekunde auszuweichen.
Einen Moment lang blieb ich in dem Schatten stehen, den Chalis Haus warf, und genoss die Ruhe. Aus dem Gebäude nebenan kam eine Frau in einem Mantel, unter dem ein Satinsaum hervorschaute. Sie trug rote Lederstöckelschuhe, und als sie an mir vorbeiging, sah ich, dass ihr Lippenstift und Nagellack farblich auf die Schuhe abgestimmt waren.
Man hätte fast meinen können, alles wäre beim Alten.
Als wäre hier vor einer Woche kein Mord geschehen.
Als hätte Chali niemals existiert.
Und die traurige Wahrheit war: Sie existierte jetzt tatsächlich nicht mehr.
Ich holte ihre Schlüssel aus meiner Tasche, betrat den nach Ammoniak riechenden Flur und ging nach oben. Tag für Tag war Chali diese Stufen hochgestiegen. Schade, dass Dathi nun nicht mehr mit eigenen Augen sehen konnte, wie ihre Mutter gewohnt hatte. Ich nahm mir vor, ihr das Apartment in allen Einzelheiten zu beschreiben: die Einrichtung, den Geruch, die Geräusche im Treppenhaus und in der Wohnung, die Anzahl der Zimmer, die Farbe der Wände. Ich kämpfte gegen die aufkeimende Verzweiflung an: Ich musste unbedingt mit Dathi sprechen. Und auch wenn ich es gar nicht erwarten konnte, Antwort von ihr zu erhalten, so schwand doch langsam meine Hoffnung, von ihr zu hören.
Ironischerweise war die Tür diesmal richtig zugesperrt. Wie unsinnig war das denn, dachte ich, drehte den Schlüssel und trat ein.
Das Erste, was mir auffiel, war der metallische Geruch von getrocknetem Blut, der in der Luft hing. Ein Blick ins Wohnzimmer und durch die einen Spaltbreit offenstehende Badezimmertür bestätigte meine Vermutung, dass hier niemand sauber gemacht hatte.
Staubkörnchen, die ich beim Betreten des verlassenen Apartments aufwirbelte, tanzten in den durch die Wohnzimmerfenster einfallenden Lichtstrahlen. Daran, dass die Polizisten hier das reinste Chaos hinterlassen hatten, nahm ich keinen Anstoß. Ich war ja nicht gekommen, um aufzuräumen. Ich sollte Klarschiff machen. Ich legte meinen Mantel ab, besorgte Mülltüten und machte mich daran, die Dinge auszusortieren, die ich mitnehmen wollte. In einer kleinen Schale auf dem Fensterbrett stand ein halb heruntergebrannter Räucherkegel, den ich anzündete. Danach schaltete ich die Stereoanlage an und ließ die CD laufen, die schon im Player lag. Dass sie Abbey Road von
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