Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
blondierte Haare, was mich als Erstes irritierte. Warum jemand einem Kind die Haare färbte, war mir schleierhaft. Sie trug weiße, sehr kurze Shorts, ein eng anliegendes pinkfarbenes Top ohne Träger und pinkfarbene Badelatschen mit Absätzen, die sie größer machten. Ihre Zehennägel waren grellrot lackiert, und die langen Haare sahen aus, als wären sie über eine große Bürste geföhnt worden. Große Kreolen schmückten ihre Ohren. Als mir auffiel, dass sie die Wimpern getuscht und einen Hauch pinkfarbenen Lippenstift aufgelegt hatte, wurde mir ganz flau im Magen: Unwillkürlich musste ich an Jonbenet Ramsey denken, die kleine Schönheitskönigin, die man 1996 im Keller ihres Elternhauses gefunden hatte: Die Sechsjährige war brutal vergewaltigt und ermordet worden. Der Täter war bis heute auf freiem Fuß.
Mit einem Mal hörte ich auf zu tanzen und lauschte auch nicht mehr der Musik, sondern ging weiter die Rose Avenue entlang. Auf der kurzen Strecke begegnete ich noch drei Mädchen, die ebenfalls wie erwachsene Frauen herausgeputzt waren – kindliche Vamps in Begleitung ihrer Mütter.
Was war der Grund für diese Aufmachung? Lag es an Los Angeles? An diesem Ort, wo Menschen entdeckt und zu Stars gemacht wurden? Oder stachen all diese frühreifen Mädchen nur ins Auge, weil es hier so viele Menschen gab? War das – statistisch gesehen – gar kein Einzelfall? Und falls ja, warum war mir dann dieses Phänomen nicht in New York aufgefallen? Krieg dich wieder ein, Hollywood zieht ehrgeizige Mütter an wie Motten das Licht, fuhr es mir durch den Sinn.
Ich öffnete die Haustür meines Bruders und trat in den kühlen Korridor. Aus der Sonne zu fliehen tat gut. Wann immer ich nach Kalifornien reiste, genoss ich die erste Woche sehr, aber dann sehnte ich mich nach der Ostküste, dem unbeständigen Wetter und einer Fröhlichkeit, die eher eine Ausnahmeerscheinung und nicht die Regel war. Diesmal packte mich das Heimweh allerdings schon nach zwei Tagen. Wenn es schon etwas später gewesen wäre, hätte ich mir einen Drink genehmigt, und kurz überlegte ich wirklich, ob ich nicht doch diesem Verlangen nachgeben sollte; aber es war wirklich zu früh dafür. Setzte mir jeder unschöne Gedanke derart zu, war es wahrscheinlich höchste Zeit, darüber mit meiner Therapeutin Joyce zu sprechen. Nach der Fehlgeburt hatte ich mich einmal an sie gewandt und am Ende der Sitzung versprochen, sie im Notfall anzurufen. Während der letzten Wochen war so vieles passiert, das ich noch nicht verarbeitet hatte, und manchmal fürchtete ich, wieder den Boden unter den Füßen zu verlieren, im Treibsand zu versinken. Wenn jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, mich bei Joyce zu melden, wann dann?
Ich griff in meine Hosentasche, zog das BlackBerry heraus und wollte gerade Joyce’ Nummer im Adressbuch suchen, als auf meinem Mobiltelefon eine Mail einging.
Sie stammte von Dathi und ließ mich auf der Stelle alles andere vergessen.
KAPITEL 12
Dathis Mail war bei weitem nicht so höflich und entgegenkommend formuliert wie die, die sie mir zuletzt geschickt hatte. Vermutlich hatte sie momentan für solche Feinheiten keine Zeit.
Onkel hat mich für 10000 Rupien an einen Agenten verkauft, der mich als Zimmermädchen nach Bombay vermitteln will. Nur hat Oma mich vor solchen Agenten gewarnt, und so bin ich weggelaufen.
In der Hoffnung, dass sie noch am Computer saß, antwortete ich ihr umgehend:
Dathi, was soll das heißen? Bist du in Sicherheit?
Wie gebannt starrte ich auf das Display und wartete. Vergeblich.
Wieder und wieder überflog ich ihre Mail und versuchte, mehr aus dem Text herauszulesen, als darin stand. Da ich bereits mit dem eiskalten Onkel Ishat gesprochen hatte, wunderte es mich nicht, dass er seine Nichte loswerden wollte. Aber die Kleine verkaufen?
Für zehntausend Rupien – wie viel Geld war das überhaupt?
Ich ging in das Wohnzimmer, wo Mac und ich auf dem Schlafsofa übernachteten – Ben hatte es sich hocherfreut im Schlafsack neben Davids Bett gemütlich gemacht. Aus meinem Rucksack zog ich mein Notebook hervor, setzte mich damit im Schneidersitz auf den Boden, fuhr den Rechner hoch und begann zu googeln.
Zuerst ging ich bei meiner Recherche ganz banal vor und tippte Mädchen an indischen Agenten verkauft ein. Der erste Eintrag lieferte einen Link zur Times of India: Junge Mädchen für Rs. 2 Lakh verschachert. Allein die Vorstellung, dass kleine Mädchen tatsächlich verkauft wurden, schnürte mir die Kehle
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