Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
und -unterteil herausragenden Bauch mit einem Sonnenöl mit hohem Lichtschutzfaktor eingerieben. So gelassen wie an diesem Tag erlebte man sie selten. Der Strand war gut besucht. Ich richtete mich auf und sah, wie Mac und Jon am Wasser entlangspazierten und immer kleiner wurden. In der flirrenden Hitze schien alles zu verschwimmen: der Ozean, der Sand, die Sonnenbadenden, die Promenade, die Palmen und die Häuschen an der Küste.
Susanna leitete die Jungs an, wie man aus nassem Sand Türme für die Burg baute. Neuerdings trug sie eine Brille, deren Gläser in der Hitze beschlugen, und der Wind zerzauste ihr blondes Haar. Doch sie ließ sich von all dem nicht davon abhalten, ihre kleine Mannschaft zu beaufsichtigen. Meine Nichte hatte sich in eines von diesen klugen, gebieterischen Mädchen verwandelt, die der ganze Stolz ihrer Mütter sind. Während Mom und Andrea sich darüber den Kopf zerbrachen, wie eine fünfköpfige Familie in einem Haus mit drei Schlafzimmern – eines davon war ein begehbarer Kleiderschrank, in dem David sich eingenistet hatte – zurechtkommen sollte, musste ich an Cece denken, die jetzt neun Jahre alt gewesen wäre.
Ich suchte den Strand nach einem Mädchen ab, das so aussah, wie ich mir meine Tochter in diesem Alter vorstellte. Im flachen Wasser entdeckte ich ein großgewachsenes braunhaariges Mädel, das hysterisch lachte und ihren jüngeren Bruder gnadenlos mit Wasser bespritzte. Für einen Sekundenbruchteil genoss ich ihren Anblick; dann verschwamm ihr Bild, und ich machte mir bewusst, dass ich eine Fremde anstarrte. Als mein Blick kurz über Andreas geschwollenen Bauch huschte, kostete es mich einige Überwindung, nicht an meine andere Tochter zu denken.
Schatten, überall Schatten – trotz des gleißenden Sonnenlichts.
»Zuerst stecke ich Susie und Davie in den größeren Raum«, erklärte Andrea, »und stelle die Wiege in das kleine Kabuff. Je nachdem ob es ein Junge oder ein Mädel ist, können wir später immer noch entscheiden, wer sich mit wem das Zimmer teilt.«
Ihre Zuversicht, dass das Baby gesund und zum vorausberechneten Datum auf die Welt kommen würde, verstörte mich. Da ich mein Kind gegen Ende der Schwangerschaft verloren hatte, war ich bei diesem Thema längst nicht mehr so optimistisch wie meine Schwägerin.
Ich zwang mich, auch diesen Gedankengang nicht weiterzuverfolgen.
Dazu war dieser Tag einfach viel zu schön.
Ben kam angerannt und sprang auf meinen Schoß. »Wir sind hungrig!« Sand, Salzwasser und Sonnenmilch bildeten auf seiner Haut einen glitschigen Film, der mich allerdings nicht davon abhielt, ihn fest in die Arme zu schließen.
»Ist schon Mittag?«, fragte Mom.
Andrea drehte das Handgelenk und sah auf ihre Uhr. »Es ist nach eins.«
»Höchste Zeit, nach Hause zu gehen«, meinte Mom.
»Nein!« Susanna hatte sich mit in die Seiten gestemmten Fäusten vor uns aufgebaut. »Die Sandburg ist noch nicht fertig. Wir haben noch viel zu tun.«
Dass sie das königliche Wir verwendete, amüsierte mich, zumal sie die anderen die meiste Zeit nur beaufsichtigte. Offenbar war sie eine knallharte Chefin ohne einen Funken Mitleid für ihre Untergebenen.
»Ich habe auch Hunger«, verkündete der neben ihr stehende David.
»Was haltet ihr davon?« Ich stand auf und bürstete den Sand von meinen Beinen. »Ich gehe nach Hause und mache ein paar Sandwiches. Lust auf ein Picknick?«
Die Kleinen jubelten zustimmend und flitzten zu ihrer Sandburg zurück.
Dort, wo der Strand an die Promenade grenzte, zog ich meine Flipflops an und marschierte die Rose Avenue hinunter. Ein dünner Mann in Nikolausmütze, Shorts und T-Shirt stand auf dem Bürgersteig, läutete eine Glocke und hielt jedem Passanten eine Sammelbüchse mit einem Heilsarmee-Aufkleber unter die Nase. Ich spendete einen Dollar und lief weiter.
Ein Stück weiter scharte sich eine Menschenmenge um eine Gruppe Trommler. Ich blieb stehen. Fünf Jungs im Teenageralter produzierten einen nervösen, vielschichtigen Rhythmus, der so ansteckend wirkte, dass man Lust bekam zu tanzen. Ehe ich mich’s versah, bewegte ich mich mit den anderen, schwenkte die Hüften nach links und rechts, bewegte den Kopf auf und ab. Und dann bemerkte ich ein kleines Mädchen, das ihre Mutter an der Hand hielt und ebenfalls zur Musik tanzte. Ich konnte den Blick nicht von ihr abwenden, ohne gleich sagen zu können, weshalb sie mich dermaßen faszinierte.
Meiner Schätzung nach war sie sechs oder sieben Jahre alt und hatte
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