Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
Gedanken ab – zu den anderen Mädchen, den Vermissten, den toten Prostituierten. Ich dachte an Abby, an die zahllosen Teenager, deren Dasein von der Habgier Dritter, von Gewalt oder beidem geprägt war. Und alle versuchten vergeblich, ihrem Schicksal zu entrinnen, nur um am Ende für immer von der Bildfläche zu verschwinden und in Vergessenheit zu geraten, als wäre ihre Existenz gänzlich unbedeutend.
Chali hatte Dathis Abreise gründlich vorbereitet: Sie hatte ein Visum und ein One-Way-Flugticket für Neujahr besorgt sowie die Fluggesellschaft davon in Kenntnis gesetzt, dass ein Kind allein von Nagpur nach New York fliegen würde, wo ein Erwachsener es abholte. Ich hatte mitbekommen, wie Chali all dies in die Wege leitete. Wer hätte damals ahnen können, wie wichtig es sein würde, dass ich Bescheid wusste.
Nun war es meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Dathi das Flugzeug bestieg und ich rechtzeitig am Flughafen auftauchte, um sie in Empfang zu nehmen. Über alles andere konnte ich mir später noch den Kopf zerbrechen.
War es irrsinnig, dass ich die Verantwortung für Chalis Tochter übernahm? Oder nicht? Indiskutabel. Verrückt.
Oder – in einem anderen Licht betrachtet – nur eine kleine Geste des Beistands?
Ich erhob mich und ging in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Nach ein paar Schluck und tiefen Atemzügen hatte ich mich so weit beruhigt, dass ich Onkel Ishats Nummer wählen konnte. An die Spüle gelehnt, lauschte ich, wie es viele tausend Meilen weit weg am anderen Ende läutete.
Nach einer gefühlten Ewigkeit meldete er sich.
»Sie schon wieder.«
»Bitte, legen Sie nicht auf.« Ich zwang mich zur Besonnenheit, auch wenn ich ihn am liebsten angeschrien hätte.
Er schwieg und wartete. Ich wusste nicht so richtig, wie ich anfangen sollte, spürte jedoch ganz deutlich, dass er auflegte, falls ich mich nicht sputete.
»Geben Sie mir Dathi.«
Er lachte schallend. »Auf Wiederhören.«
»Warten Sie! Ich zahle Ihnen zwanzigtausend Rupien für sie. Setzen Sie sie einfach in den Flieger nach New York. Mehr brauchen Sie nicht zu tun.«
» Zwanzig tausend, sagen Sie?«
Ich hatte nicht lange überlegt und die Summe, die er für sie verlangte, einfach verdoppelt. Erst jetzt dämmerte mir, dass vierhundert Dollar wahrscheinlich nicht ausreichten, Onkel Ishat dazu zu bewegen, sie zu suchen und zurückzukaufen.
»Dreißig«, sagte ich und trieb in meiner Hektik den Preis selbst in die Höhe. »Vierzig ... Fünfzig.«
»In Ordnung.«
Und damit hatte ich ein Kind gekauft. So einfach lief das.
»Sagen Sie mir, wohin ich das Geld überweisen soll, und ich schicke es Ihnen sofort.«
Er gab mir alle notwendigen Informationen, die ich auf einem Einkaufszettel notierte, der mit einem Magnet an der Kühlschranktür befestigt war. Selbstverständlich musste ich ihm die Summe umgehend überweisen. Des Weiteren musste ich mit der Möglichkeit rechnen, dass er sich nicht an unsere Vereinbarung hielt und keinerlei Anstalten machte, Dathi zu finden.
»Das Flugzeug geht am Samstag«, erinnerte ich ihn. »In sechs Tagen also. Wissen Sie, wo ihr Visum und Ticket sind? Haben Sie eine Ahnung, wo sie steckt? Werden Sie sie finden können?«
Er schwieg kurz. »Welche Frage soll ich zuerst beantworten?«, erwiderte er schließlich.
»Das Ticket, wissen Sie, wo ...«
»Ja, ja, ich weiß, was zu tun ist. Ich warte, bis Ihr Geld eintrifft.« Dann hängte er auf.
Eine kleine Weile lauschte ich dem Knistern in der Leitung, ehe ich ebenfalls auflegte.
Zehn Minuten später hatte ich online mit Western Union die fünfzigtausend Rupien von meiner Kreditkarte auf Onkel Ishats Konto transferiert. Die Summe belief sich – inklusive der Überweisungsgebühr von zwanzig Dollar – auf 1140,31 Dollar, was ungefähr einem Drittel unserer monatlichen Hypothekenzahlung entsprach. Unsere vier Flugtickets nach Kalifornien hatten deutlich mehr gekostet. Für durchschnittliche Mittelschicht-Amerikaner wie uns war das eine relativ unbedeutende Summe. Im Grunde genommen war das so, als ließen wir das Wasser laufen, während wir telefonierten, ohne uns dabei bewusst zu sein, dass diese Unaufmerksamkeit in weiten Teilen der Welt als pure Geldverschwendung empfunden wurde. Dann wurde mir bewusst, dass meine Vergleiche vollkommen absurd waren. Als ich die Website schloss, bemerkte ich plötzlich, dass jemand im Zimmer aufgetaucht war.
Überrascht drehte ich mich um.
»Was treibst du?«
Ein verschwitzter Mac stand hinter mir
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