Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
Wir treten in beiden Fällen auf der Stelle. Patrick Scott schwört steif und fest, nur zufällig am Tatort auf der Nevins vorbeigekommen zu sein. Ach, und wo wir gerade schon davon sprechen ... Uns ist es immer noch nicht gelungen, die letzte ermordete Prostituierte zu identifizieren.« Mit einem Blick auf seine Uhr stand er auf und stellte seinen Teller in die Spüle. »Hab gar nicht bemerkt, dass es schon so spät ist. Ich habe La-a versprochen, dass ich gegen zwei wieder zurück bin.«
»Zufällig am Tatort. Dass ich nicht lache.« Mac schob seinen Stuhl nach hinten und brachte Billy zur Tür. »Kann ich mich irgendwie nützlich machen?«
»Übernimm bitte den Fall.«
»Würde ich gern«, sagte Mac und lachte sarkastisch. »Immer noch besser als der Mist, den ich ausgraben muss, damit sich irgendwelche Paare scheiden lassen können.«
»Ich würde sofort mit dir tauschen.«
Zu dritt standen wir in der Tür. »Ich meine es ernst«, betonte Mac. »Falls ich dich irgendwie unterstützen kann, brauchst du’s nur zu sagen.« Damit spielte er natürlich auch auf Billys PTBS an.
Nachdem Billy sich verabschiedet und Mac sich mit Star an die Arbeit gemacht hatte, ging ich in die Küche, um dort Ordnung zu schaffen.
»Karin?«
Ich schrak zusammen. Dathi hatte sich ganz leise an mich herangeschlichen. Ich stellte das Wasser ab und drehte mich zu ihr um.
»Ja?«
»Wer ist Abby?«
Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Offenbar hatte sie uns doch belauscht.
»Ein Mädchen aus dem Viertel.«
»Und ihre Eltern wurden auch umgebracht? Dieser Mann, Mr. ...«
»Billy?«
»Ja, Billy. Ich habe gehört, wie er sagte, Abby hätte nicht gewusst, dass ihre Eltern tot sind. Kommen hier in Amerika viele Eltern gewaltsam ums Leben? Mir hat auch keiner vom Tod meiner Mutter erzählt. Ich musste es allein rausfinden.«
Ich trocknete meine Hände am Spültuch ab und strich ihr eine Haarsträhne nach hinten, die ihr über das Auge gefallen war. »Nein, das ist ganz und gar nicht normal, sondern sehr ungewöhnlich. Eigentlich ist es hier in unserem Land ziemlich sicher.«
»Wieso wurden sie getötet?«
»Abbys Eltern, meinst du?«
»Ja. Und Mami. Wie kann das sein?«
»Genau das will Billy ja herauskriegen.«
»Sind die drei zusammen umgekommen?«
»Nein. Anderer Tag, anderer Ort, andere Art und Weise.«
Dathi nickte versonnen und überlegte. »Ich finde das trotzdem ziemlich merkwürdig.«
»Ganz deiner Meinung.«
»Wie alt ist Abby?«
»Elf.«
»Ich muss sie unbedingt kennenlernen.«
Ich zögerte, ehe ich antwortete. »Gut, aber sie liegt momentan noch im Krankenhaus.«
»Wurde sie verletzt, als man ihre Eltern umgebracht hat?«
»So kann man das nicht sagen«, antwortete ich ausweichend.
Zum Glück fragte Dathi nicht weiter nach, sondern setzte sich an den Küchentisch und schien nachzudenken. Ich widmete mich wieder dem Geschirr.
Viel später – als ich dachte, sie schliefe längst – drang leises Schluchzen aus ihrem Zimmer. Ihr Kummer stimmte mich nachdenklich. Im Grunde genommen konnte ich gar nicht abschätzen, was ich uns beiden aufgebürdet hatte. Hatte ich die richtige Entscheidung getroffen? Oder einen schweren Fehler begangen? Bei all meinen Überlegungen durfte ich eines nicht außer Acht lassen: Ich hatte Dathi vor einem Menschenhändler bewahrt, der sie auf den Kinderstrich schicken wollte. Und wer dort landete, war für immer verloren. Von daher musste ich einfach darauf vertrauen, dass ich das Richtige getan hatte.
* * *
Wir hatten richtig Glück, denn Dathi bekam einen Platz in der sechsten Klasse einer öffentlichen Schule in Park Slope. Diese Einrichtung hatte einen erstklassigen Ruf und war mit dem Bus gut zu erreichen. An ihrem ersten Schultag brachte ich sie ins Büro des Direktors, der versprach, ihr nach dem Unterricht eine Liste mit den Dingen auszuhändigen, die sie brauchte. Gutgelaunt verließ ich das Gebäude, doch als ich die anderen Schüler durch den Haupteingang strömen sah – sie trugen Röhrenjeans, modische Jacken und Turnschuhe in Neonfarben, schminkten sich mit Eyeliner und hatten grün gefärbte Haare oder gepiercte Nasenflügel -, schwand mein Optimismus. In so einem hippen Umfeld würde Dathi einen schweren Stand haben.
Um drei Uhr wartete ich vor dem Schulgebäude, um sie abzuholen. In Begleitung einer Horde Sechstklässler kam sie durch den Seitenausgang, drückte Macs alten Rucksack an die Brust und hatte trotz der Kälte den Reißverschluss ihrer Jacke nicht
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