Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
stockte das Herz. Mac sah mich fragend an. Es kam nicht oft vor, dass mir die Worte fehlten. Urplötzlich brach ich in Tränen aus. Mac schloss mich in die Arme und drückte mich so lange, bis die Tür einen Spaltbreit geöffnet wurde und zwei Gesichter auftauchten: unten Bens, darüber Dathis.
»Können wir helfen?«, fragte sie. Doch als sie merkte, dass sie und Ben störten, packte sie ihn und verschwand.
»Siehst du?«, sagte ich. »Sie ist etwas ganz Besonderes. Sie wird eine große Bereicherung für diese Familie sein. Und sie kann Ben helfen, nicht so selbst fixiert zu werden wie unsere Nichten und Neffen.«
»Schon möglich.«
»Mit Sicherheit. Gib zu, dass ich recht habe.«
»Aber nur so lange, bis sie ihre eigene kulturelle Herkunft vergisst und genauso narzisstisch wird wie alle anderen amerikanischen Kinder in unserem Umfeld.«
»Was nicht passieren wird.«
»O doch. Darauf kannst du Gift nehmen.«
»Tja.« Ich hob den Blick und berührte seine Wange. »Einen Versuch ist es doch wert, oder?«
Er überlegte kurz und fragte dann: »Wo soll sie schlafen?«
Nun wusste ich, dass ich ihn auf meine Seite gezogen hatte.
»Ich dachte mir, jetzt, wo du eine Assistentin hast und deine Firma brummt, hättest du vielleicht gern ein richtiges Büro?«
Er lachte kurz auf. »Ach, jetzt kapier ich’s. Ich weiß ganz genau, worauf du hinauswillst.«
»Na, es braucht keinen Detektiv ...« Um das Offensichtliche zu erkennen, fügten wir beide in Gedanken hinzu. Dieser Satz war unser privates geflügeltes Wort.
»Vorerst kann sie bei Ben schlafen«, schlug ich vor. »Und sobald wir für dich ein Büro gefunden haben, zieht sie in dein Arbeitszimmer.«
* * *
An diesem Abend saß ich mit einer übermüdeten Dathi, die von der langen Reise und dem Jetlag gerädert war, im Wohnzimmer, während Mac Ben ins Bett brachte. Doch ihre Übermüdung war nicht bloß eine Folge des langen Flugs. Nein, ihr Leben hatte sich schlagartig und grundlegend geändert, was zweifelsohne viel Kraft kostete. Wann war der richtige Zeitpunkt, ihr Chalis Weihnachtsgeschenke zu geben? Doch wenn ich damit noch wartete, würde sie sich dann nicht später darüber wundern?
»Bin gleich wieder da«, sagte ich und tauchte kurz darauf mit zwei Päckchen in hübschem Geschenkpapier auf. Was sich darin verbarg, wusste auch ich nicht.
»Oh!« Dathi sprang auf, als ich die Geschenke neben ihr auf die Couch legte.
»Die sind für dich – von deiner Mutter.«
Sie starrte die Geschenke an. Ich rechnete mit irgendeiner besonderen Reaktion, mit Begeisterung oder Tränen. Falsch gedacht: Sie zeigte keinerlei Regung. In dem Moment hätte ich sie am liebsten in die Arme geschlossen, konnte mich jedoch gerade noch beherrschen.
»Mach sie auf«, drängte ich sie.
Behutsam entfernte sie zuerst das Geschenkband des kleineren Pakets und dann das silbern und grün gemusterte Papier, unter dem eine schwere Metallkette in einer dicken, durchsichtigen Plastikhülle zum Vorschein kam. Das Geschenk zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen.
»Ein Fahrradschloss!«, rief sie mit funkelnden Augen und packte das nächste Päckchen aus. »Und ein Helm!« Mit zitternden Fingern befreite sie den orangeblau gestreiften Helm von seiner Verpackung, öffnete die Schnalle und setzte ihn auf. »Jetzt kann es losgehen.«
»Dathi ... kommst du damit zurecht, dass du jetzt hier bist? Sicherlich hast du etwas anderes erwartet.«
»Ich werde dir nicht zur Last fallen«, entgegnete sie leise. »Das verspreche ich.«
»Du bist keine Last für uns. Deine Mutter hat mir viel bedeutet. Und du bist mir wichtig.«
»Ich werde arbeiten und dir helfen, so viel ich nur kann.«
»Das brauchst du nicht, ehrlich. Sei einfach du selbst.«
Sie legte die Hände auf die Augen. »Es tut mir leid.«
»Was denn?«
»Vielleicht liegt es am Jetlag.«
»Klar. Du bist auch nur ein Mensch.«
Sie beherrschte sich und wirkte auf einmal, trotz des Fahrradhelms, ganz erwachsen.
»Oma ist tot. Mami ist tot. Mein Onkel konnte mich noch nie leiden. Von dem Augenblick an, wo ich mitgekriegt habe, wie dieser Mann aus Mumbai Geldscheine neben Onkel Ishats Teetasse legte, ahnte ich, dass ich auf mich allein gestellt war. Ich wusste, was das bedeutete. Omi hatte mich gewarnt. An dem Tag hat sich mein Karma verändert. So wollte es die Vorsehung.«
War es tatsächlich möglich, dass sie diese krasse Veränderung einfach so akzeptierte? Vielleicht kam Dathi wirklich damit zurecht. Um dies zu beurteilen,
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