Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
Bibel schwenkender Pädophile – hatte sie entdeckt, als er das Dach ihres Elternhauses reparierte. Eine ganz Weile lang hatte er sie beobachtet, bevor er sie mitnahm und neun Monate lang als »Zweitfrau« gefangen hielt.
Gut möglich, dass ich während des Polizeidiensts zu viele richtig miese Typen kennengelernt hatte, aber die Resozialisierung kaputter Seelen war meines Erachtens ein sinnloses Unterfangen. Meine Devise lautete: Schütze deine Familie, und halte Fremde auf Distanz. Schließlich hatte ich auf die harte Tour lernen müssen, wie trügerisch der erste Eindruck oftmals war. Nicht jeder verdiente Nachsicht und Güte.
»Ben, komm her!«, rief ich. Er hatte schon die übernächste Kreuzung erreicht. Nun wandte er sich um, sah, wie ich ihn heranwinkte, und kam sogleich angerannt.
An der Ampel überquerten wir die Court Street. Ich erhaschte einen Blick auf den letzten der Musketiere, der gerade durch ein Tor auf der Congress Street ging und damit aus meinem Blickfeld verschwand. Ben und ich folgten ihm. Wir blieben vor dem schmiedeeisernen Tor stehen, hinter dem sich ein kleiner Hof mit einer Statue von einem betenden Mädchen und der Kircheneingang befanden. Auf einem Schild am Tor stand: Grabstätte von Cornelius Heeney, Gründer der Brooklyn Benevolent Society und Gönner der Pfarrgemeinde von St. Paul’s, 1836. Wir schlenderten zum Haupteingang auf der Court Street, wo ein weiteres Schild angebracht war: Römisch-katholische Kirche St. Paul’s und St. Agnes.
Die drei Musketiere gehörten also in der Tat zu den Schäfchen, um die Pater X sich kümmerte. Hatten sie womöglich die Dekkers gekannt?
»Lass uns nach Hause gehen, Ben.« Ich setzte mich in Bewegung und holte mein Handy heraus.
»Können wir Eiscreme besorgen?« Er reckte den Kopf und zeigte auf das Blue Marble.
»Später. Zuerst essen wir zu Mittag.«
Mürrisch eilte er davon. Während ich versuchte, mit meinem überaus flinken Sohn Schritt zu halten, rief ich Billy an.
»Genau das mag ich«, scherzte er. »Da ruft mich jemand an und keucht nur in den Hörer.«
»Hör mal, Billy, es gibt da drei unheimliche Typen, denen ich immer wieder begegne, und die sind gerade eben in die Kirche von Pater X gegangen.«
»Ja, und?«
»Hast du mir nicht gesagt, die Dekkers hätten im Rahmen der Kirche notleidende Menschen unterstützt?«
»Worauf willst du hinaus?«
»Von dir weiß ich, dass Reed Dekkers letzter Anruf Pater X galt. Brauchte er nicht jemanden, der seinen Heizkörper reparierte?«
»Das Ding sollte gestrichen werden.«
»Wie auch immer.«
»Für Polizisten macht das einen Unterschied, Karin.«
»Würde einer von diesen Typen einen Fuß in mein Haus setzen, wäre ich zutiefst beunruhigt. Kannst du da nicht mal nachhaken?«
Er schwieg. Seufzte. »Sicher. Warum nicht? Den Punkt setze ich sofort auf meine Liste, gleich unter Abbys vermeintliche Facebook-Aktivitäten.«
Sein Kommentar brachte mich auf den Boden der Tatsachen zurück. »Vermeintlich?«
»Der Zeitpunkt ist gerade ungünstig. Ich habe viel zu tun. Wir reden später.«
Dass er mich mit einer solchen faulen Ausrede abspeiste, wurmte mich.
Kurz vor dem Ziel verlangsamte ich das Tempo, während Ben auf unser Haus zupreschte. Ungeachtet der Tatsache, dass Billys herablassende Art mich ärgerte, konnte ich ihn auch verstehen: Hatte man es mit einem scheinbar unlösbaren Fall zu tun – oder wie in seinem Fall gleich mit Dreien, zwischen denen womöglich eine Verbindung existierte -, gaben alle anderen ihren Senf dazu und erteilten gute Ratschläge, wie man den Täter fassen würde. Ich konnte durchaus nachvollziehen, wie sehr es seine Geduld strapazierte, jedem ein Ohr zu leihen und kostbare Zeit zu verlieren, die man weitaus sinnvoller nutzen konnte. Nur hatte gerade ich ihn angerufen und nicht irgendein Wichtigtuer. Dass ich den Polizeidienst quittiert hatte, änderte doch nichts an meinen Fähigkeiten. Warum hatte Billy mich einfach so abgespeist? Verhinderte das PTBS oder die Furcht, von seinen Kollegen entlarvt zu werden, dass er sich voll und ganz auf seine Arbeit konzentrierte? Vielleicht, dachte ich, während ich für Ben die Haustür aufschloss, sollte ich mich das nächste Mal mit einem begründeten Verdacht lieber an La-a wenden. Damit würde ich zwar ihr Misstrauen ihm gegenüber weiter schüren, was ihr bestimmt zupasskäme, und Billy in den Rücken fallen. Andererseits war ich längst über den Punkt hinaus, falsche Rücksichten zu nehmen.
Mehr und
Weitere Kostenlose Bücher