Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
kannte ich sie nicht gut genug. Aufgrund ihres Verhaltens, ihrer Gefasstheit, konnte man glauben, es mit einer zukünftigen Weltpolitikerin zu tun zu haben. Jedes Mal wenn ich daran dachte, welches Schicksal sie auf der anderen Seite der Welt erwartet hatte, fröstelte es mich. Und auf einmal begriff ich, was Chali unter Karma verstanden hatte: eine Macht, die wie ein Hurrikan über einen hereinbrach und der man sich beugen musste, weil Widerstand zwecklos war. Nur derjenige überlebte, der sich fügte und anpasste.
* * *
Am Montagmorgen fanden wir in unserer Straße einen Raum in einem Apartment, den Mac sofort anmieten und innerhalb eines Monats kündigen konnte. Nun waren wir imstande, sein Arbeitszimmer Dathi zu überlassen. Billy kam vorbei und half Mac beim Umzug, während Dathi und ich ihr neues Zimmer herrichteten.
An diesem Morgen hatte ich beim indischen Konsulat eine Nachricht hinterlassen; dennoch zuckte ich zusammen, als das Telefon läutete. Ich stürmte nach oben und überließ es Dathi, ihre Kleider in der Kommode zu verstauen, die wir aus dem Keller geholt hatten.
Ich erklärte dem Konsulatsmitarbeiter, der mich zurückgerufen hatte, so bedächtig wie möglich die Situation. Er stellte mich zu jemand anderem durch, der mich ebenfalls weiterverband, bis mir schließlich eine freundliche Frau sagte, die Aussichten für eine Adoption stünden unter der Voraussetzung, dass wir alle erforderlichen Formulare wahrheitsgetreu ausfüllten, gar nicht so schlecht. Der Vorgang war jedoch ziemlich kompliziert: Wir brauchten einen auf Immigration spezialisierten Anwalt, einen indischen Anwalt, der sich mit dem dortigen Sorgerecht auskannte, Chalis Sterbeurkunde und einen notariell beglaubigten Brief von Onkel Ishat. Außerdem mussten wir eine sechsmonatige Wartefrist einhalten, damit andere »interessierte Parteien« – entfernte Verwandte – Zeit hatten, ebenfalls Ansprüche anzumelden. Am Ende würde ein Richter über Dathis Einwanderung entscheiden. Alles in allem stand uns ein langwieriger, teurer und komplizierter Prozess bevor.
»Sind Sie sicher, dass Sie das durchstehen?«, fragte die Frau mich.
»Ja«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen.
Später erstattete ich Billy und Mac am Küchentisch Bericht.
»Mann, Karin«, meinte Billy kichernd. »Du willst das wirklich durchziehen. Ich muss zugeben, ich bewundere deinen Mumm.«
Mac warf ihm einen Blick von der Seite zu, erhob jedoch keine Einwände – ein sicheres Anzeichen dafür, dass sich seine Haltung gegenüber Dathi langsam änderte. Ich fühlte mich wie ein Marathonläufer, der glaubte, die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht zu haben, während er sich in Wahrheit erst warm gelaufen hatte.
Beim Essen erzählte Dathi uns von ihrer besten Schulfreundin Oja, die sie in der Heimat zurückgelassen hatte. Oja stammte ebenfalls aus einer armen Familie, aber da ihr Vater noch am Leben war, wohnte die Familie unter einem Dach und schaffte es, das Schulgeld aufzubringen. Während Dathi uns all das schilderte, verharrte ihr Blick auf ihren gefalteten Händen. »Oja wird mich vermissen«, flüsterte sie. »Ich konnte mich nicht von ihr verabschieden ... Doch sie wird das verstehen.«
»Sicher«, pflichtete ich ihr bei.
Sie lächelte und versuchte, ihre Zweifel zu vergessen.
Nach einer Weile entführte Ben Dathi ins Wohnzimmer, wo die beiden miteinander spielten.
Mit einem Blick Richtung Tür vergewisserte Billy sich, dass die Kinder uns nicht belauschten, und sagte: »Wie es aussieht, wusste Abby nicht, dass ihre Eltern ermordet wurden. Jemand im Krankenhaus hat sie informiert. Als sie davon erfuhr, hat sie geweint.«
»Wann ist das passiert?«, wollte ich wissen.
»Heute Morgen, bevor ich dorthin gegangen bin.«
»Warum hast du das denn nicht gleich gesagt?«
»Sollte ich etwa vor den Kindern so etwas erzählen?«
Ich spähte durch die Tür. Dathi saß auf dem Sofa, hatte Ben auf dem Schoß und las ihm aus einem Buch vor. »Abby hat also keine Ahnung, was sich in jener Nacht abgespielt hat?«
»Wer weiß? Keine Ahnung, wie viel sie mitgekriegt hat. Sie ist ziemlich niedergeschlagen.«
»Kann ich mir vorstellen.«
»Wir mussten übrigens Antonio Neng gehen lassen«, verkündete Billy freudlos. »Hatten nicht genug gegen ihn in der Hand. Er hat sich einen sündhaft teuren Anwalt besorgt. Es wurde ein Gerichtstermin anberaumt, ungeachtet dessen, dass die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind. Mann, dieser Fall ist wie Blei.
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