Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
von ihren Mitschülern ab, doch im Gegensatz zu ihren überheblichen Klassenkameraden war sie immer noch dieses wissbegierige, freundliche Mädchen, das ich vom Flughafen abgeholt hatte. Schwer abzuschätzen, wann sich das änderte und sie sich anpasste. Als ich mit ihr in den Bus steigen wollte, hob sie abwehrend die Hand.
»Karin, bitte. Ich schaffe das allein.«
Kleinlaut ließ ich sie ziehen und schaute dem wegfahrenden Bus hinterher. Für dieses Mädchen zu sorgen stellte mich vor ganz neue Herausforderungen. Ihre Unabhängigkeit irritierte mich, auch wenn wir uns in diesem Punkt ziemlich ähnlich waren. Einerseits war sie noch ein ziemlich junges Mädchen, auf der anderen Seite würde es nicht mehr lange dauern, bis sie sich endgültig von ihrer Kindheit verabschiedete. Da ich sie ins Land gebracht hatte, war ich auch für ihre Sicherheit verantwortlich. Nun musste ich für mich nur noch klären, wie ich das bewerkstelligen sollte.
Nach meiner Rückkehr loggte ich mich in meinen Facebook-Account ein: keine Nachricht von Abby. Danach rief ich Billy an und berichtete, was ich in Erfahrung gebracht hatte.
»Abby starrt immer noch an die Decke«, versicherte er mir. »Und schweigt beharrlich.«
»Kann sie oder will sie nicht sprechen?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Frag mal bei Sasha Mendelsohn nach, ob sie es für möglich hält, dass Abby im Netz war. Was, wenn Dathi diese Geschichte erfunden hat?«
»Die Kleine macht doch einen netten Eindruck. Schwer vorstellbar, dass sie dich angeschwindelt hat.«
»Sehe ich ganz ähnlich, aber ich kann auch nicht behaupten, sie nach der kurzen Zeit schon zu kennen.« Dass sich bei mir leise Zweifel einschlichen, obwohl ich ihr sehr zugetan war, brachte mich völlig aus dem Konzept. Ich brauchte Gewissheit. »Erkundige dich bitte und gib mir Bescheid. Ich muss das unbedingt wissen.«
Zwanzig Minuten später – ich stieg gerade aus der Dusche – meldete Billy sich schon zurück.
»Laut Mendelsohn ist es vollkommen unmöglich, dass Abby im Netz war. Ohne Hilfe kann sie gar nicht aufstehen, und dann geht sie nur kurz ins Badezimmer oder hoppelt auf Krücken durch den Flur. Zudem sind alle Computer im Krankenhaus passwortgeschützt.«
»Dann hat Dathi mir etwas vorgeflunkert, oder ein Fremder benutzt Abbys Facebook-Account.«
»Frag sie einfach, wenn sie von der Schule nach Hause kommt.«
»Wird gemacht.«
»Karin, sollte jemand anderer auf Abbys Facebook-Seite zugreifen, informierst du mich. Es kann schon mal vorkommen, dass die CCU etwas übersieht.«
Heutzutage konnte ein Detective ohne die Unterstützung der Computer Crimes Unit, die Abteilung zur Bekämpfung von Computerkriminalität, eigentlich gar keinen Fall mehr lösen. Obwohl die CCU unter aller Garantie das Online-Profil der Dekker-Familie überwachte, war Billys Einwand durchaus berechtigt: Jeder machte mal einen Fehler.
»Ich melde mich auf jeden Fall bei dir.«
KAPITEL 15
Wir achteten nicht auf die rote Ampel und überquerten die Bergen Street. Ben, der als Erster die Kreuzung erreichte, wäre fast mit den drei Musketieren zusammengestoßen.
»Wow!« Der Bursche mit den spitz zulaufenden Koteletten und den gelb-roten Turnschuhen hob die Hände, reckte das Kinn und lächelte verkniffen. »Du bist aber schnell!«
Anschließend liefen er und seine kichernden Freunde die Bergen Street Richtung Court Street hoch. Ich blieb stehen und schaute ihnen hinterher. Wohin gingen sie eigentlich Tag für Tag? Ständig legten sie zur selben Uhrzeit die gleiche Strecke zurück, sodass man die Uhr nach ihnen stellen konnte.
Von weitem erblickte ich an der Kreuzung Bergen und Court Street die große römisch-katholische Kirche St. Paul’s, an der ich schon zig Mal vorbeigelaufen war. Die Kirche von Pater X. Die Kirche, der die Dekkers angehört hatten. Ich sah, dass Ben schon an der nächsten Ecke wartete, und musste mich sputen.
Während ich ihm nachjagte, überlegte ich, ob die drei Musketiere, diese Vagabunden in den adretten Teenagerklamotten, womöglich die Männer waren, die Pater X mit Gelegenheitsjobs versorgte. Bei seinem letzten Anruf hatte Reed Dekker den Pater um eine Empfehlung gebeten. Die Vorstellung, dass einer dieser Männer im Haus der Dekkers gewesen war und die Heizkörper repariert hatte, jagte mir einen Schauer über den Rücken. Hatte dieser Mann dort Abby angetroffen? Und was dann? Unwillkürlich musste ich an den Fall Elizabeth Smart denken: Ihr Kidnapper – ein Obdachloser und
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