Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
sich in den überdachten Eingang eines Copy-Shops, der noch nicht geöffnet hatte. Er trug gebügelte Jeans, schneeweiße Turnschuhe, eine schwarze Jacke und ein weißes Sweatshirt mit Kapuze, die er jedoch nicht über den Kopf gezogen hatte. Mit dem Rücken zum Verkehr öffnete er seinen Hosenstall, woraufhin ich mich schnell abwandte. Als er wieder bei seinen Freunden stand, warf ich einen Blick nach hinten und sah eine Urinlache auf dem schneebedeckten Bürgersteig. Das bisschen Sympathie, das ich ihnen eben noch entgegengebracht hatte, verflüchtigte sich schlagartig.
Der B63 kam und fuhr wieder weg, ohne dass die Musketiere einstiegen. An dieser Haltestelle hielt auch der B65. Da ich noch nie mit ihm gefahren war, kannte ich seine Strecke nicht, doch als er ein paar Minuten später auftauchte, traten die jungen Männer an die Bordsteinkante. Ich stellte mich hinter sie, zückte meine Monatskarte und wählte einen Platz, von dem aus ich sie belauschen konnte. Dabei achtete ich darauf, ihnen nicht zu nahe zu kommen, denn ich wollte vermeiden, dass sie mich bemerkten.
Sie ließen sich ganz hinten nieder und quatschten unablässig. Nicht zum ersten Mal fand ich, dass sie sich wie Schulmädchen aufführten, nur dass ich dies heute anders interpretierte. Seit meiner eigenen Teenagerzeit, die zugegebenermaßen schon eine Weile zurücklag, hatte ich keinen Kontakt zu Jugendlichen gepflegt. Aber seit Dathi in unser Leben getreten war, fand ich mich plötzlich in dieser Welt wieder und erinnerte mich an die einst auch für mich geltende Norm: Man musste sich total cool geben und durfte niemals Schwäche zeigen, sonst war man erledigt. Grausamkeit bestimmte das Miteinander; der soziale Druck war immens. Um zu überleben, musste man sich bis zum letzten Schultag den Regeln beugen, und dann war man frei – bis zur High School. Mehr denn je erinnerten die drei Musketiere mich an eine Teenagerclique. Doch was verband diese drei jungen Männer miteinander?
An der 3rd Avenue bog der Bus ab und fuhr die Dean Street hoch. Kurz vor der Haltestelle auf der Classon Avenue sprangen die Musketiere auf und stellten sich vor den Ausstieg. Erst in allerletzter Sekunde sprang ich aus dem Bus auf die heruntergekommene Straße, wo mein Blick auf verlassen wirkende Lagerhäuser, eine geschlossene Autowerkstatt und ein paar niedrige Backsteingebäude fiel. Hier wohnte man nur, wenn man keine Alternative hatte. Auf der anderen Straßenseite wartete eine große Schar Männer und Frauen, deren Verhalten dem der drei Musketiere ähnelte, vor der Tür eines Backsteingebäudes. Ich konnte nicht abschätzen, ob die Menschenmenge, die sich hier eingefunden hatte, für mich von Vorteil oder von Nachteil war. Mit stur nach vorn gerichtetem Blick ging ich im Schneckentempo entlang meiner Straßenseite, während die Tür des Backsteingebäudes geöffnet wurde und die Leute davor sich brav hintereinander anstellten.
Ich wartete, bis alle Einlass gefunden hatten. Dann überquerte ich die Straße und las, was auf dem kleinen Türschild stand: Behandlungszentrum St. Vincent de Paul, Mary Immaculate Hospital, Öffnungszeiten Mo-Fr. 9:30-16:00.
Das hier war also die Methadon-Klinik, welche die Dekkers finanziell unterstützt hatten. Anscheinend war niemand auf die Idee gekommen, mit einem größeren Schild Werbung für sie zu machen. Doch wenn man es recht überlegte, war dies sowieso egal, denn die Menschen fanden auch so hierher. Vermutlich blieb den meisten Besuchern gar keine andere Wahl; es war davon auszugehen, dass einige von ihnen von einem Richter zu dieser Ersatztherapie verdonnert worden waren.
Ich gab mir einen Ruck, öffnete die Tür und trat in einen niedrigen, aber riesigen Raum mit beigefarbenen Wänden, von denen die Farbe bröckelte. Ein Teil der Wartenden hatte auf den am Boden festgeschraubten Plastikstühlen Platz gefunden. Die anderen harrten vor einer kleinen Durchreiche aus, die zu einem Büro gehörte. Um nicht aufzufallen, stellte ich mich ebenfalls an. In der Durchreiche lag ein Klemmbrett mit einer Liste, wo die Leute sich eintrugen, ehe sie Platz nahmen. Während ich wartete, entwarf ich einen Schlachtplan. Wo ich schon mal hier war, konnte ich die Gelegenheit nutzen und rausfinden, wer die drei Musketiere waren.
Zwischen mir und dem letzten Musketier warteten fünf Leute. Glücklicherweise standen die drei jungen Männer gemeinsam an. Als ich an der Reihe war, musterte mich ein Mann in einem grünen Krankenhauskittel mit
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