Karl der Dicke & Genossen
Hausnummer kannten sie nicht, aber das regte sie nicht auf, zumal die Straße sehr kurz war. Langsam schoben sie die Räder an den Häusern vorbei und lasen die Namensschilder an den Türen.
„Bist du denn sicher, daß dein Opa tatsächlich Mertens heißt?“ fragte Egon, als das Ende der Straße in Sicht war, ohne daß sie den rüstigen Rentner aus den Wesermühlen gefunden hatten.
„Das ist eine Frage!“ antwortete Karl. „Meinst du, ich wüßte nicht, wie meine Mutter mit Geburtsnamen hieß?“
Guddel war ein Stück voraufgegangen.
„Ich hab ihn!“ rief er plötzlich zurück. „Hier! W. Mertens!“
„Na endlich“, sagte Egon. „Der gute Mann hätte ruhig schon weiter vorne wohnen können.“
Karl hielt Egon am Ärmel fest und winkte Guddel zurück. „Hört zu“, sagte er leise, „ich schmeiß die Konversation. Ihr sagt höchstens mal ja und aha und so was, damit er uns für wohlerzogene Knaben hält. Für ein paar Stunden wird uns die Verstellung schon gelingen. Das Verhältnis zwischen meiner Mutter und ihrem alten Herrn war immer ein wenig gespannt, müßt ihr wissen, darum muß ich unsere Übernachtung mit Fingerspitzengefühl vorbereiten.“
„Okay, okay“, knurrte Egon, „aber nun laß uns endlich auf die Klingel drücken, ich bin müde zum Umfallen.“
Karl legte den Finger auf den Mund.
„Erst mal kämmen!“ verlangte er. „Sonst hält Opa Hameln uns für Einbrecher. Gib mal deinen Kamm, Guddel!“
„Der ist im Rucksack!“
„Das sieht dir ähnlich, Mensch! Und Egon hat seinen im Schuh, was?“
„Nein, im Strumpf“, sagte der grinsend und zog tatsächlich einen langen Kamm aus dem Strumpf.
Sie kämmten sich der Reihe nach, zupften ihre Hemden zurecht und klingelten dann.
Eine Weile blieb alles ruhig.
„Dein lieber Opa ist doch wohl nicht im Kino, was?“ zischelte Egon. Da summte ein Türöffner, und sie konnten eintreten. Langsam stiegen sie eine steile Treppe hinauf und gelangten in einen Flur, in dem es aussah und roch wie in einem Gewächshaus. Eine zimmerhohe Fächerpalme beherrschte den Raum. Sie hielt ihre Wedel dachartig über zwei Türen und nahm, in einem großen Kübel stehend, sehr viel Platz ein. Daneben und in allen Ecken und Winkeln standen Gummibäume, Kakteen und alle denkbaren anderen Hartlaubgewächse.
Erstaunt blickten die drei in die grüne Dämmerung.
„Sei bloß vorsichtig“, flüsterte Egon, „gleich hüpft da so ein bissiger kleiner Tiger aus dem Kaktus und schmeißt uns mit Kokosnüssen!“
„Ich hab’ gar nicht gewußt, daß mein Opa eine Schwäche für die Botanik hat“, flüsterte Karl. „Das Hobby scheint er sich erst als Rentner zugelegt zu haben.“
Guddel war einem der Riesenkakteen zu nahe gekommen und hatte sich einen Stachel in den Finger gerissen. „Verdammter Mist!“ schimpfte er. „Tomaten oder Stiefmütterchen finde ich viel sympathischer als diese Wüstengewächse.“
„Pst!“ machte Karl. „Wir machen uns mal bemerkbar.“ Er bückte sich ein wenig, schlüpfte unter der Palme durch und klopfte an die Tür. Eine sehr dunkle Stimme rief: „Herein!“
Karl drückte auf die Klinke, öffnete die Tür und trat ein. Egon und Guddel kamen sofort hinterher.
Was sie nun sahen, verschlug ihnen die Sprache.
Sie befanden sich zweifellos in einem botanischen Garten, einem Zoo oder dem Zimmer eines altmodischen Gelehrten. Rings an den Wänden hingen Kästen mit präparierten Schmetterlingen und Käfern; auf Aststummeln hockten ausgestopfte Vögel; Füchse schlichen um Vasen, und Marder lauschten mit runden Ohren Eichhörnchen nach. Auf dem Fußboden reihten sich acht bis zehn Aquarien aneinander, gluckerten, sprudelten, summten und leuchteten aus unsichtbaren Lichtquellen. Unter den Glasgehäusen aber lagen schwarze, weiße, rote, gescheckte und getigerte Katzen, blinzelten schläfrig auf die hin und her zuckenden Skalare und träumten von fetteren Happen. Mittendrin in diesem halb lebendigen und halb ausgestopften Gehege saß ein älterer Mann in einem Rollstuhl und äugte auf die Eindringlinge, die es wagten, seinen paradiesischen Frieden zu stören.
„Guten Tag“, sagte Karl unsicher, „ich bin Karl aus Bremen, und das sind meine Freunde Egon und Guddel. Wir sind gewissermaßen auf der Durchreise, wir fahren nämlich mit dem Rad die ganze Weser entlang und haben uns gedacht, wir dürften Hameln doch nicht verlassen, ohne hier guten Tag gesagt zu haben.“
Der Mann im Rollstuhl sah die drei mit zusammengekniffenen
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