Karl der Dicke & Genossen
Als Guddel fertig war und eben noch angab, daß Onkel Eduard das Honorar nach Hannoversch Münden, hauptpostlagernd, schicken möchte, wurde er auch schon ins Eßzimmer gerufen, wo es nach Bratkartoffeln und Spiegeleiern duftete.
Bevor die Jungen sich verabschiedeten, steckte Frau Klingeberg ihnen noch zwanzig Mark für die Fahrtenkasse zu.
Um achtzehn Uhr saßen sie wieder auf den Rädern und sausten satt und zufrieden nach der Porta Westfalica, ohne auch nur einen Blick auf die Kanalbrücke geworfen zu haben. „Wenn es so weitergeht“, sagte Egon, „kommen wir zwar nicht sehr schnell, aber sehr billig voran und erleben eine ganze Menge dabei.“
„Frau Klingeberg ist ‘ne Wucht“, stellte Karl nachdenklich fest. „Sie kann einem richtig leid tun.“
„Hoffentlich finden wir ihre Tochter!“ sagte Guddel.
„Ich sehe da keine Schwierigkeiten“, sagte Karl. „Ein Gang zum Einwohnermeldeamt, und wir wissen Bescheid.“
„Wir wollen aber doch hoffentlich nicht unsere ganze Fahrt wegen der Tochter umschmeißen - oder?“ fragte Egon. „Den Opa Hameln aus der Wesermühle dürfen wir uns keinesfalls entgehen lassen!“
„Na, was meinst du denn, wo wir heute nacht schlafen werden?“ sagte Karl. „Nirgendwo anders als in den herrlich weichen Gästebetten meines menschenfreundlichen Opas. Der guckt jetzt schon dauernd aus dem Fenster, um zu sehen, ob wir nicht bald auftauchen.“
„Wieso, hast du ihm denn geschrieben, daß wir kommen?“
„Quatsch! Er ahnt unsern Anmarsch. Das verwandschaftliche Blut in seinen treuen Adern schlägt schon haushohe Wellen.“
Guddel hielt kurz an, um den Brief für Onkel Edu in den Kasten zu werfen.
In Porta kauften sie sich ein Eis, warfen von der Weserbrücke aus einen flüchtigen Blick auf das Kaiser-Wilhelm-Denkmal und radelten weiter. Sie waren zuversichtlich, die letzten dreißig Kilometer des heutigen Tages noch vor Einbruch der Dunkelheit zurückgelegt zu haben.
Nach und nach bezog sich der Himmel. Der Wind nahm zu, und ein fernes Grummeln war zu hören.
„Sag bloß, das Gewitter kommt zurück!“ rief Egon. „Quatsch!“ sagte Karl. „Es zieht ab. Siehst du nicht, wie es dahinten immer heller wird?“
„Dafür wird es vor uns aber immer dunkler“, sagte Guddel. „Wir fahren ja direkt hinein in den Schlamassel.“
„Alles Täuschung“, sagte Karl. „Setzt mal eure Sonnenbrillen ab, dann ist es taghell.“
Sie fuhren und fuhren.
Gegen sieben waren sie in Rinteln und gaben sich noch eine Stunde bis Hameln. Aber kurz hinter Heßlingen brach ein so heftiges Gewitter auf sie hernieder, daß sie bis auf die Haut naß waren, bevor sie sich unter das Dach einer Tankstelle flüchten konnten. Da stand schon jemand mit einem Fahrrad, ein Jüngling von vielleicht siebzehn Jahren. Er trug ein blaues Batikhemd, sandfarbene Kordhosen mit Schlag und gelbe Stiefelsandalen. Sein Fahrrad funkelte in Chrom und Gold, blinzelte mit vier Scheinwerfern in das Unwetter und ertrug geduldig die Schlagermusik aus einem rotledernen Kofferradio, das auf seinem Gepäckträger angeschnallt war. Das Schönste an dem Jungen aber war eine Gitarre, die er wie eine Flinte über dem Rücken trug. Übrigens war er vollkommen trocken, mußte demnach das schützende
Dach rechtzeitig erreicht haben. Er grinste die aufgeweichten Radwanderer an und fragte herausfordernd: „Regnet’s draußen?“
„Nicht direkt“, antwortete Karl, „aber es trübt sich ein.“ Und er klatschte sich auf die Oberschenkel, daß das Wasser drei Meter weit spritzte.
So plötzlich wie das Unwetter gekommen war, endete es. Die schwarzen Wolken zogen vorüber, wenige vereinzelte Tropfen klopften noch auf das Pflaster, und dann erfüllte ein würzig frischer Hauch die Luft. Zu beiden Seiten der Straße floß das Wasser in reißenden Bächen.
Ohne sich um den feinen Jüngling zu kümmern, brachen sie auf. Das nasse Zeug klebte ihnen am Körper, aber nach der Schwüle des Tages empfanden sie das als recht angenehm. „Hoffentlich kriegt Opa Hameln keinen Herzschlag, wenn er unsere nassen Klamotten sieht“, sagte Egon.
„Bis dahin sind die längst wieder trocken“, antwortete Karl. „Und wenn nicht, legen wir ein Handtuch auf den Stuhl, bevor wir uns hinsetzen. Der weiß doch, daß wir von der Wasserkante kommen, da muß er sich auf Feuchtigkeit einstellen.“
Es war fast neun, als sie die Stadt erreichten und sich nach der Fischpfortenstraße durchfragten, in der Opa Hameln wohnen sollte. Die
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