Karl der Dicke & Genossen
geschickt in die Fassung. „Bitte sehr, jetzt ist sie wieder fast normal. Nur das Fluidum des Außergewöhnlichen ist natürlich futsch. Eine Brille mit zwei Gläsern hat doch jeder! Soll ich auch noch einen andern Bügel ansetzen? Oder genügt ein sportliches Gummiband, das man mühelos übers Ohr streifen kann? Wir können euch da rote, grüne und blaue Gummibänder zur Auswahl anbieten. Vielleicht Rot für den Morgen, Blau für den Abend und Grün für besondere Gelegenheiten?“
In diesem Moment betrat eine ältere Frau den Laden. Zögernd ging sie an den Tresen, grüßte und sah sich suchend um. Die beiden Mädchen beantworteten freundlich ihren Gruß, machten aber keinerlei Anstalten, sie zu bedienen. Da glaubte Egon, wieder ein gutes Interview machen zu können. Er rannte hinaus zu seinem Fahrrad, holte das Tonbandgerät herein, hängte es Guddel über die Schulter und sich das Radio-Bremen-Schild um den Hals. Karl drückte er das Mikrophon in die Hand. Den beiden Mädchen zwinkerte er zu, mit dem Verkaufen zu beginnen.
„Bitte sehr, meine Dame, haben Sie schon gewählt? Was darf es denn sein?“ fragte Rosi, indem sie ihre Augen der Frau, ihren Mund aber dem Mikrophon zuwandte.
Bevor die Kundin antworten konnte, sagte Egon nüchtern und sachlich: „So oder so ähnlich, verehrte Hörer, beginnt jedes Verkaufsgespräch. Wie es aber weiter verläuft, hängt ab von der Phantasie des Händlers und der Intelligenz des Käufers. Wir stehen hier mit unserem Aufnahmeteam in einer Drogerie und sind gespannt, was sich nun entwickelt. Bitte, meine Herrschaften, fahren Sie fort!“ Damit ging er auf die Frau zu, der man die Erregung deutlich ansah. „Darf ich jetzt was sagen?“ fragte sie. „Selbstverständlich!“ antwortete Egon. „Sagen Sie Ihre Wünsche nur frei heraus.“
„Kann man mich überall sehen?“
„Sehen nicht, aber hören, liebe Frau.“
„Auch in Kassel?“
„Na klar! Sie müssen nur laut und deutlich sprechen.“ Die Frau nickte, ging unsicher an das Mikrophon heran, ganz dicht, als ob sie sich schämte, daß Fremde ihr zuhörten, und sagte mit zittriger Stimme: „Ich wünsch’ dir alles Gute, Christel, und du darfst auch wiederkommen, wenn du willst. Vati hat das gar nicht so gemeint. Wir haben in deinem Zimmer alles so gelassen, das Bett, die Couch und alles. Ich habe es gestern wieder frisch bezogen, wie jede Woche.“ Sie unterbrach sich, weil sie schluchzen mußte. Egon wollte etwas sagen, aber Guddel winkte hastig ab. Da fuhr die Frau halb weinend fort: „Wir waren doch nur so aufgeregt, wir alle, das mußt du doch verstehen! Du bist doch noch so jung. Komm nach Haus, Christel, bitte, komm nach Haus!“ Und nach einer kleinen Pause fügte sie leise hinzu: „Ende!“ Die Jungen und die beiden Mädchen standen betroffen und verlegen, weil sie sahen, wie die Frau weinte. Niemand sprach ein Wort. Schließlich ging Guddel auf die Frau zu und nahm sie in den Arm.
„Sie müssen nicht traurig sein“, flüsterte er. „Wenn Ihre Christel das hört, kommt sie bestimmt zurück.“
Aber die Frau schüttelte zweifelnd den Kopf und sagte ton-los: „Vielleicht hat sie kein Radio und kann mich gar nicht hören.“
Karl hatte das Mikrophon immer noch in der Hand, die Tonbandspule drehte sich geräuschlos. Die alte Frau schneuzte sich und wischte sich die Tränen ab.
„Mit einem Gastarbeiter ist sie weggelaufen, einem Jugoslawen. Wer weiß, wie sie da in Kassel hausen muß. Man hört doch so schlimme Sachen. Dabei könnte sie so gut bei uns wohnen, wir haben doch Platz genug, wo doch jetzt die Gereckes ausgezogen sind. Aber wir kennen ja nicht mal ihre Adresse.“
Guddel hatte die Frau immer noch umgefaßt.
„ln Kassel lebt sie?“ rief er nun, als wäre ihm die Lösung des Problems eingefallen. „Da fahren wir ja direkt vorbei! Wissen Sie was? Wir besuchen sie und sprechen mit ihr. Dann kommt sie bestimmt zurück.“
Die Frau schluckte.
„Aber wie wollt ihr sie denn finden?“ fragte sie.
„Das macht uns keine Mühe“, mischte sich Karl ein. „Wir wenden uns ganz einfach an die Polizei.“
„Na klar!“ bestätigte Egon. „Die Polizei hilft, wo sie kann. Wir haben da die besten Erfahrungen, was Guddel?“
„Und ob!“ rief der. „Sie müssen uns nur verraten, wie Ihre Christel mit Nachnamen heißt.“
„Klingeberg“, sagte die Frau, „Christel Klingeberg. Im März ist sie gerade einundzwanzig geworden.“
Guddel zog sein Notizheft aus der Tasche und schrieb den
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