Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Klosterschatz. Äbte residieren gemeinsam mit Frau und Kindern in den heiligen Gemäuern. Von einem Bischof wird mit Lust an der Übertreibung berichtet, er habe »solches Vergnügen an heilloser Trunksucht gefunden, dass ihm schließlich der Leib zerrissen sei«. Einer der Hauptgründe für solche Zustände: Viele Mönche haben der Welt nicht freiwillig entsagt. Um das Familienerbe nicht zu zerstückeln, schicken Edelleute ihre zweit- und drittgeborenen Söhne sowie ihre Töchter häufig ins Kloster, wo sie sich um ihr Auskommen – dank der Abgaben von Hufenbauern – keine Sorgen machen müssen.
Das Leben der Landarbeiter lässt Eskapaden nicht zu. Bauernsöhne müssen bereits in zartem Alter auf dem Acker mithelfen, ihre Schwestern in Haus und Hof. Zur Abhärtung werden die Kinder Hunger, Hitze und Kälte ausgesetzt. Die Geburt bestimmt im Frankenreich, wer später mächtig und wer den Mächtigen ausgeliefert sein wird. Die starre Hierarchie gilt als Ausdruck der von Gott geschaffenen harmonischen Weltordnung. »So dass Gott denen, für die, wie er sieht, die Freiheit nicht passt, in großer Barmherzigkeit die Knechtschaft auferlegt, damit die Möglichkeit zu freveln durch die Macht der Herren eingeschränkt würde«, formuliert es ein Kleriker.
Während halbwüchsige Bauernbuben sich im Wald und auf den Feldern abrackern, bekommen Knaben aus Adelsfamilien von ihrem Vater im Alter von 14 Jahren in einer feierlichen Zeremonie ein Schwert überreicht: eine kostbare Waffe, die sie von diesem Tag an bis zu ihrem Tod bei sich tragen werden. »Geschmiedet aus hyperboräischem Erz, gehärtet in Sachsenblut«, schreibt ein Chronist. Schon früh erlernen sie die Kriegskunst, und viele werden als Elitesoldaten des Königs Karriere machen. »Wer nicht zur Pubertät im Reiterkampf fertig ausgebildet ist«, so der Geistliche Rabanus Maurus, »wird diese Fähigkeit im höheren Alter, wenn überhaupt, nur mit großer Mühe erlangen.« Wählen junge Adelige – oder deren Eltern für sie – hingegen eine kirchliche Laufbahn, so haben sie die Möglichkeit, im Kloster lesen, schreiben und rechnen zu lernen. Ein Privileg, das Bauern ebenfalls verwehrt bleibt. Den Landarbeitern bieten meist nur kirchliche Feiertage und Feste etwas Abwechslung vom harten Arbeitsalltag. Am Ende der Fastenzeit, am Nikolaustag, auf Hochzeiten und Taufen wird getanzt, gesungen und gefeiert. Auf manchen Höfen verkleiden sich die Menschen dann mit Masken, um ihrer armseligen Existenz für eine Weile zu entfliehen.
Wahrscheinlich ist es für Bauern auch ein unvergessliches Abenteuer, wenn sie einen der überregionalen Jahrmärkte in einer Klostersiedlung besuchen dürfen. Einer der traditionsreichsten dieser Märkte, die oft mehrere Tage dauern, findet jeweils im Oktober in Saint-Denis bei Paris statt. Nicht nur Bauersleute und Handwerker bieten dort ihre Erzeugnisse an, sondern auch hauptberufliche Händler, die auf Fuhrwerken oder Schiffen Wein, Eisen, Getreide und Vieh durchs ganze Reich transportieren. Abends wird in der Taverne gefeiert. Und manche Marktbesucher sprechen dem Alkohol so stark zu, dass es ihnen nicht gelingt, die erworbenen Güter heil nach Hause zu bringen.
Doch der Fernhandel von Kaufleuten, die Getreide quer durchs Reich bis hoch nach Friesland verschiffen, verstärkt die Not vieler Bauern weiter. »Gäbe es dich nicht Rhein, wären meine Kornspeicher angefüllt mit dem Ertrag unserer fruchtbaren Felder«, beklagen sich die Bewohner der Vogesen in einem Gedicht aus jener Zeit. »Aber du führst das Getreide weg, so dass, oh Unglück, unsere armen Bauern Hunger leiden müssen.« In Wirklichkeit ist nicht allein der Export das Problem. Spekulanten kaufen bei guter Ernte regelmäßig Korn auf, um es in Mangelzeiten mit riesigem Gewinn wieder zu veräußern. Etwas Erleichterung für die Bauern bringt es, als Karl der Große – wohl auch als Reaktion auf die große Hungersnot der Vorjahre – 794 endlich verbindliche Höchstpreise für Weizen, Roggen, Gerste und Hafer festlegt, um die Spekulation einzudämmen.
Acht Jahre darauf, mittlerweile zum Kaiser gekrönt, lässt der Herrscher viele Gesetze, die im Frankenreich während Jahrhunderten nur mündlich überliefert wurden, niederschreiben. Nun können sich auch die Bauern – zumindest theoretisch – auf sie berufen. Doch in der Realität haben Leute ohne Macht und Geld weiterhin wenig Chancen vor der Justiz. Denn Richter werden häufig bestochen, genau wie die Menschen, die ihre
Weitere Kostenlose Bücher