Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
nur zum Schein, nicht aber wirklich zu verstümmeln? Vielleicht war das, was im Frühjahr 799 von Rom bis ins Frankenreich verbreitet wurde, aber auch schlicht ein böses Gerücht: Hatten Leos Anhänger selbst es gestreut, um Stimmung gegen die Rebellen zu machen?
Rätsel über Rätsel: Leo gelang die Flucht aus seinem Gefängnis. Wie und warum hatte der hilflose Papst seinen Gegnern entkommen können? Welche Rolle spielten dabei der Herzog Winigis von Spoleto, der Abt Wirund von Stablo, der Erzbischof Arn von Salzburg? Karl hatte die drei Männer gleich auf die ersten trüben Nachrichten hin nach Rom beordert, um die Lage zu sondieren. Die hochrangigen Emissäre sollten ihm verlässliche Informationen übermitteln.
Schon ihr Erscheinen aber genügte offenbar, um die Gegner des Papstes zu verunsichern. Wahrscheinlich Anfang Juli 799 verlegten die Aufrührer ihren hohen Gefangenen aus dem Stephanskloster, im Norden der Stadt, nach St. Erasmus auf dem Monte Celio im Südosten – weiter fort also von den fränkischen Gesandten. Schon dürfte mancher Rebell am Erfolg gezweifelt haben. Einer von ihnen war ein gewisser Maurus: Er soll schließlich gemeinsam mit dem Kämmerer Albin dem Papst zur Flucht verholfen haben; so wollte es jedenfalls später ein Annalist im Frankenreich wissen.
Historiker stochern im Nebel der kargen Halbwahrheiten, die einige wenige Zeitgenossen so notierten, dass sie bis heute überliefert sind. Fest steht nur: Leo entkam seinen Feinden. Mit fränkischer Eskorte machte er sich erst auf den Weg nach Spoleto. Von dort zog er über die Alpen, zum König der Franken. Karl weilte im Sommer 799 in Sachsen. Bereits im Juni – der König war nur prinzipiell, nicht im Detail im Bilde über das Geschehen in Rom – hatte er sich mit einem Heer auf den Weg in die notorisch rebellische Region gemacht. Nun beschloss er, den geflohenen Papst in Paderborn zu empfangen.
Der Ort war ein Symbol: Paderborn war ein fränkisches Zentrum inmitten jenes Landstrichs, den Karl und seine Männer in immer neuen Kriegszügen, mit nackter Gewalt, tödlichen Sanktionen und frommer Predigt seit den 770 er Jahren dem Christentum erschlossen hatten. Im Hochsommer 799 , als der Papst anreiste, dürften Karl und seine Entourage in Sachsen intensiv beraten haben. Wie sollte man auf die Vorgänge in Rom reagieren? Karl war mit Hadrian befreundet gewesen. Zwar hatte er Leo III. als Nachfolger anerkannt, doch war durchaus nicht selbstverständlich, dass er ihn jetzt gegen Hadrians Neffen unterstützen müsse. Sollte Karl also den Papst fallenlassen? Sollte er ihn stützen und schützen?
Als Leo im September 799 Paderborn erreichte, hatte Karl seine Entscheidung getroffen. Er ließ den Weitgereisten ehrenvoll empfangen. Schon das signalisierte: Karl wünschte Leo auch weiterhin als Bischof von Rom zu sehen. Die Gespräche zwischen Papst und König am Zusammenfluss von Pader und Lippe dauerten nur wenige Tage. Und doch haben sie von jeher Historiker fasziniert: Haben Leo und Karl damals über das Kaisertum verhandelt? War die Kaiserkrone der Lohn für Karls Hilfe gegen Leos Feinde? War sie der Preis, den Leo zahlen musste, um Papst zu bleiben? Keiner der Protagonisten, kein Augenzeuge, ja überhaupt kein Zeitgenosse hat uns überliefert, worüber Karl und Leo in jenen Tagen gesprochen haben.
So fischen Historiker wieder in ihren trüben Quellen nach Plausibilität: Muss denn Leo in seiner Situation nicht ein kräftiges Interesse daran gehabt haben, Karl zum Kaiser zu machen? Und konnte nicht einzig ein Kaiser in unanfechtbarer Weise über die Rebellen Paschalis und Campulus in Rom zu Gericht sitzen? Muss man dann nicht annehmen, dass König und Papst in Paderborn in irgendeiner Form über das Kaisertum verhandelt haben? Andererseits: Reichte die knappe Zeit, reichten die wenigen Tage in Ostwestfalen, um solide eine Entscheidung von derartiger Tragweite zu beraten? Und wenn man die Krönung verabredet hatte – warum begleitete Karl den Papst dann nicht gleich nach Rom? Stattdessen schickte Karl ihn allein in die Apostelstadt zurück. Erst im August des folgenden Jahres würde er selbst in Mainz die Heerfahrt nach Italien anordnen. Ziel: Rom.
Die Fahrt dorthin hatte bereits imperiale Züge. Karl machte in Ravenna Station, in der Spätantike zeitweilig Residenz römischer Kaiser. Und der Papst ließ Karl am zwölften Meilenstein vor der Stadt feierlich einholen – ein Empfang, wie er seit alters her für Kaiser üblich gewesen
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