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Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannt
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Festakt zweckentfremdet, um gleich auch Vater Karl eine Krone aufs Haupt zu setzen? War der Franke also ein Kaiser wider Willen? Vielleicht wollte Einhard, höfisch gebildet, wie er war, seinen Lesern auch nur zeigen: Der große Karl hatte gewusst, was sich gehört. Nach einer hohen Würde durfte man nicht streben, man hatte sich zu sträuben! Wollte Einhard seinen Karl also lediglich mit jener Bescheidenheit ausstatten, die sich für einen guten Christen ziemte? All dies haben Historiker vermutet, alles ist denkbar. Nur ein glücklicher Zufallsfund könnte größere Sicherheit bringen: Erst neue zeitgenössische Dokumente könnten zu klären helfen, was Einhard gemeint hat.
    Nicht minder rätselhaft bleibt das, was Einhard gleich zu Beginn seines Berichts mit wenigen Worten andeutet: das Attentat auf Leo III. , das im Frühjahr 799 die Vorgeschichte der Kaiserkrönung eröffnete. Einhard behauptet rundheraus, die Römer hätten Leo die Zunge abgeschnitten und die Augen herausgerissen. Tatsächlich könnten so (oder so ähnlich) die ersten Nachrichten gelautet haben, die im Mai 799 über die Alpen zu den Franken drangen: In Rom hätten hochrangige Geistliche gegen den Papst aufbegehrt und ihn verstümmelt. Doch muss Einhard, als er Jahre später seine Karlsbiografie schrieb, es längst besser gewusst haben.
    Aus den spärlichen Berichten, die überliefert sind, lässt sich einigermaßen sicher das Folgende rekonstruieren: Eine Fraktion von Verwandten und Vertrauten des vorherigen Papstes Hadrian begehrte im April 799 gegen Leo III. auf. Die beiden Führer der Rebellen gehörten zur Elite der römischen Kirche: Campulus war als Sacellarius zuständig für die päpstlichen Finanzen; Paschalis, ein Neffe Hadrians, leitete als Primicerius Leos Verwaltung.
    Am 25 . April zog der Papst in der jährlichen Bittprozession der Laetania maior von St. Laurentius nach St. Peter. Da schlugen die Täter zu: Sie überfielen den Papst, versuchten, ihm Augen und Zunge herauszureißen – und setzten Leo im Kloster St. Stephan und Silvester gefangen. Ihr Ziel war offenbar, ihn seines hohen Amtes zu entheben. Stumm und blind hätte Leo nicht länger Papst sein können.
    In jener fernen Zeit, lange vor Handy, Twitter und YouTube, gingen Wochen ins Land, bis eine Nachricht aus Rom in die Weiten des Frankenreiches zwischen Pyrenäen und Elbe gelangte. Und schneller als jeder Eilbote reiste das Gerücht: Wieder und wieder von Mund zu Ohr getragen, vergröberte und verzerrte es das Geschehen bis zur Unkenntlichkeit. Zwar brachten Leos Leute und die Rebellen bald Gesandte auf den Weg nach Norden, zu Karl; nur hatte jede Partei dem Frankenkönig ihre eigene Geschichte zu erzählen.
    Der Angelsachse Alkuin – ehedem ein Ratgeber Karls bei Hof, nun Abt von Saint-Martin in Tours – klagte bitter, wie wenig er erfahre. Karl aber und seiner Entourage bei Hof erging es vorerst kaum besser. Was die Boten der Rebellen dem Papst vorwarfen, klang immerhin haarsträubend: Alkuin verbrannte in Tours vorsichtshalber das Schreiben, in dem ihm sein Freund, der Erzbischof Arn von Salzburg, die Vorwürfe kolportiert hatte. Historiker bedauern die Tat bis heute. Denn so wissen sie nur Ungefähres: Man bezichtigte Leo des Meineids und des Ehebruchs.
    Erst mit der Zeit wurden die Informationen präziser und verlässlicher. Spätestens im Juli 799 wusste man zumindest vor Ort, in Rom: Leo hatte bei dem Attentat weder Zunge noch Augen verloren. Der Papst war mitnichten verstümmelt und amtsunfähig. Er war so eloquent und scharfsichtig wie zuvor. Wie aber soll man sich das vorstellen? Da ist der Papst über Tage und Wochen wehrlos den Verschwörern ausgeliefert. Sie sind offenkundig bereit, ihn mit roher Gewalt amtsunfähig zu machen. Und doch schaffen sie es nicht, ihrem Gefangenen fachgerecht die Zunge herauszuschneiden und die Augen auszustechen! Es ist das nächste große Rätsel: Schon die Zeitgenossen wussten die widersprüchlichen Informationen nicht besser zu harmonisieren als durch ein Heilungswunder.
    Andere – wie Einhard – übergingen die merkwürdige Heilung lieber gleich mit Stillschweigen. Die Historiker des 21 . Jahrhunderts aber wollen nicht mehr recht an Wunder glauben und ringen verzweifelt um Erklärungen. Hatte sich Leo beim Attentat geschickt verstellt? Merkten die Aufrührer zu spät, dass sie bei ihrer Bluttat gepatzt hatten? Oder war der Anschlag auf den Papst gar inszeniert, nichts als ein Schauspiel? War von vornherein geplant, Leo

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