Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Manuskript um Manuskript, bis er 1998 das Ergebnis in einem weit über 800 Seiten dicken Band präsentieren konnte. Der Befund ist geradezu typisch für die ebenso pragmatische wie hartnäckige Arbeitsweise der karolingischen Hofgelehrten.
Um oder bald nach 789 bestellte Karl bei Alkuin ein Lehrbuch der Zeitrechnung. Der Northumbrier eignete sich geradezu ideal für die knifflige Aufgabe: Sein Lehrer in York war noch Schüler des ehrwürdigen Beda gewesen, jenes erstaunlichen Landsmannes, der nicht nur die erste Kirchengeschichte der Angelsachsen, sondern um 725 auch ein grundlegendes Handbuch über die Ordnung der Zeit (»De temporum ratione«) verfasst hatte. Bedas Kompendium erklärte so mühsame Berechnungen wie den Ostertermin astronomisch fundiert; obendrein lieferte das Werk hilfreiche Tabellen bis weit in die Zukunft. Dennoch musste man zugeben: Nur die wenigsten konnten mit solcher Fachliteratur etwas anfangen. Alkuin versuchte, eine Art Kürzest-Fassung für Einsteiger herzustellen. Doch damit war sein Auftraggeber offensichtlich nicht zufrieden. Denn Karl ging es wieder mal um mehr als Theorie: Alle Daten sollten knapp, verständlich und im ganzen Reich einheitlich angewendet werden.
Bald war ein ganzes Team von Experten damit beschäftigt, Heiligenfeste und den Wechsel der Sternzeichen mit römischen Tagesnamen und astronomischen Schlüsselzahlen in Einklang zu bringen. Im Jahr 809 fand dann, vermutlich in Aachen, eine regelrechte Arbeitskonferenz der Kalenderkundler statt, auf der 23 Fragen vom Tagesdatum der Kreuzigung Christi bis zur Tagundnachtgleiche diskutiert wurden. In einer dicken Akte aus sieben Abschnitten und etwa 150 Kapiteln trugen die Federführer des Unternehmens in den folgenden Jahren ihr Wissen zusammen, mit vielen Grafiken und Tabellen. Doch dieses Opus war nur eine Vorarbeit für Eingeweihte. Die Summe aller Anstrengungen zog ein wenige Seiten langer Text, der jedem Tag des Jahres eine Zeile gab, Heiligenfeste benannte und wichtige Himmelsdaten verzeichnete. Ehrwürdig alte, kaum noch verständliche römische Verse zu den Monaten gaben wie Zauberformeln das Geleit, aber es wurden auch neue, volkssprachige Namen vorgeschlagen: April sollte »Aeostermonath«, August »Weodmonath« heißen.
Der Prototyp des neuen Kalenders entstand im Kloster Lorsch; von dort, so hat Borst nachgewiesen, muss sich die Tabelle rasch über weite Teile des Reiches verbreitet haben. Natürlich wurde der Text keineswegs überall sklavisch kopiert; oft kürzten die Abschreiber oder verewigten zusätzlich Daten, die ihnen selbst wichtig waren. Aber das Grundgerüst hatte Bestand. Die folgenreichste Entscheidung klingt heute geradezu lachhaft simpel: Das Jahr beginnt am 1 . Januar. Mit dieser lange umstrittenen Regelung schloss sich Karls Reich dem altrömischen Brauch an – wieder ein Indiz, welches Hauptvorbild dem Beherrscher Europas in prinzipiellen Fragen vorschwebte. Dass die Standardisierung des Kalenders heute nicht als herausragende Errungenschaft karolingischer Akribie gefeiert wird, liegt nach Borst nur daran, dass der Kaiser die Arbeit »niemals amtlich autorisiert« hat. Aber Karl, dessen Befehle einen neuen Kosmos christlicher Bildung begründet hatten, hielt ein eigenes Kalendergesetz möglicherweise gar nicht mehr für nötig. Längst war zu spüren, welch enormen Nutzen Schulreform, Buchwissen und überhaupt die Orientierung an klaren, schriftlich überprüfbaren Maßstäben hatte und noch haben würde.
Energisch und planvoll hatte Karl seine Vision zu verwirklichen angesetzt: den Entwurf eines neuen, christlichen Reiches nach Roms Vorbild, das auf klare geistig-geistliche Fundamente gegründet war. Bildung für heute, vom Sinn der Buchstaben und Worte bis zur Himmelsordnung, ist nötig im Hinblick auf das Heil, so lautete Alkuins Programm. Der Erfolg war spürbar. Immer mehr Zeitgenossen begannen, ihr Dasein nicht bloß als traurige Besserungsanstalt für das ewige Leben anzusehen.
Schon zu Lebzeiten des großen Franken zeigten sich die Indizien eines »weltbejahenden Zuges« im Denken – wie der Historiker Josef Fleckenstein es bewundernd genannt hat. Damit ist Karl wohl mitverantwortlich für ein Element westlicher Lebenshaltung überhaupt: den tätigen Optimismus im Diesseits. Gut möglich, dass ihm diese historische Leistung sogar ziemlich deutlich bewusst war.
Normlettern auf Pergament
Eine leicht lesbare, in ganz Europa einheitliche Buchschrift – das war die karolingische
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