Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
nur sinnvoll erfüllen kann, wenn er über ein umfangreiches Wissen verfügt. Sich selbst mittels Lektüre zu bilden und eigene Texte zu verfassen, das ist für Rabanus ein Schlüssel zum Seelenheil. Ein Fuldaer Mönch namens Candidus schreibt einmal an einen Mitbruder namens Modestus, er habe Rabanus geklagt, dass er sich einsam und verlassen fühle. Der Abt habe ihm nüchtern geantwortet: »Übe dich selbst durch Lesen und verfasse dann selber etwas, was nützlich ist.«
Im Jahr 842 muss Rabanus Maurus aus politischen Gründen von seinem Amt als Abt zurücktreten. Er hatte sich im Erbfolgestreit der karolingischen Dynastie als treuer Gefolgsmann von Kaiser Lothar I. gezeigt, und als dieser sich auf Druck seiner Brüder nach Reims zurückziehen musste, blieb Rabanus nur übrig, ihm zu folgen. Allerdings kehrt er bereits im Jahr darauf nach Fulda zurück, wo er erst einmal als einfacher Mönch auf dem nahe gelegenen Petersberg lebt. Rabanus ist nun über 60 Jahre alt, für die damalige Zeit also ein Greis – aber keineswegs müßig: Jetzt entsteht sein aus heutigem Blick wichtigstes Werk »De rerum naturis« (Über die Natur der Dinge), oft auch »De universo« genannt. Es ist eine der großen Enzyklopädien des Mittelalters und gilt als eine der bedeutendsten geistigen Leistungen der Karolingerzeit. In 22 Büchern, also Groß-Kapiteln, fasst Rabanus Maurus das damalige Weltwissen zusammen, über Sichtbares wie Unsichtbares. Er berichtet von Gott und den Figuren des Alten und Neuen Testaments, den biblischen Büchern, den theologischen Riten. Er erklärt die Seele und den Leib des Menschen ebenso wie die Tierwelt. Er erwähnt die Sterne, die Zeitrechnung, die Erde, beschreibt Philosophen und Dichter, beleuchtet den Aufbau von Staaten, erörtert Fragen der Musik, der Medizin, der Ernährung. Sogar Gebrauchsgegenstände schildert er.
Eine Sonderstellung gebührt dem Opus magnum des Rabanus schon aus äußerlichen Gründen: Es ist die einzige Enzyklopädie des Mittelalters mit Illustrationen, teilweise nach antiken Vorlagen. Wesentliches konnte Rabanus einem Vorgängerwerk entnehmen, den »Etymologiae« des Isidor, die über 200 Jahre früher, vermutlich um 630 , entstanden waren. Isidor, Bischof von Sevilla, hatte in seinem großen Überblicksbuch die Kenntnisse seiner Zeit durch Worterklärungen sinnfällig zu machen versucht; dabei stützte er sich vor allem auf das damals im Westen des Mittelmeerraums noch vorhandene Wissen der Antike.
Rabanus Maurus schlachtete Isidors Kompendium regelrecht aus: Er verwendete immer wieder ganze Textblöcke, zwischen die er eigene Zitate schob, er kürzte die Texte der »Etymologiae« oder erweiterte sie. Außerdem verwertete er andere Texte der Kirchenväter und aus der Antike. Durchweg schöpfte er aus schriftlichen Quellen, die zum Teil schon viele hundert Jahre alt waren. Diese Arbeitsweise brachte Rabanus in der Neuzeit immer wieder den Vorwurf ein, er sei ein »öder Kompilator«, wie ein Philologe schrieb, ja ein Plagiator. Aber solch ein Urteil wird seiner Leistung nicht gerecht, denn es verkennt völlig die Umstände seines literarischen Schaffens und seine Absichten. Der heutige Begriff des geistigen Eigentums war im Mittelalter unbekannt; um Originalität und Individualität ging es so gut wie nicht. In einer Zeit, in der viele frühe schriftliche Zeugnisse der Antike und Spätantike für immer verlorengingen, sorgte Rabanus dafür, dass Wissen bewahrt und weitergegeben wurde.
Durchweg waren seine Werke für Kleriker gedacht, um deren Ausbildung es ging, oft mit Blick auf die Praxis des priesterlichen Alltags. So schrieb denn auch Bischof Frechulf von Lisieux an Rabanus: »Wir bitten Euch dringend, dieses zusammenfassende Werk so zu gestalten, dass zuerst der wörtliche Sinn, dann der übertragene genau und trotz der nötigen Ausführlichkeit knapp genug geboten wird.« Christlicher Glaube und die Ordnung der Kirche standen allzeit obenan. Wissen war für Rabanus nicht dazu da, irdische Nöte zu beheben; Forscher-Ehrgeiz war ihm fremd. Alle Kenntnisse sollten einzig dabei helfen, das christliche Heil zu erlangen. Auch die Artikel seiner Enzyklopädie entsprechen völlig dieser christlichen Weltsicht.
Im Jahr 847 – Rabanus ist bereits knapp 70 Jahre alt – ernennt ihn Ludwig der Deutsche, König des Ostfrankenreichs, zum Erzbischof von Mainz. Der Gelehrte ist damit Oberhirte der größten Kirchenprovinz im Osten. Dieser späte Karriereschritt wird womöglich
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