Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Armen aufstellen – wer sie als Erster sinken lässt, gilt als schuldig. Ludwig lässt etliche dieser Praktiken trotz ihrer religiösen Begründung verbieten. Er ist nicht bloß fromm, sondern ein Modernisierer. Fortan werden Prozesse vor allem durch Zeugenaussagen entschieden. Ludwig dekretiert auch, dass Arme und Machtlose (»pauperes et minus potentes«) besser vor der Willkür des Landadels geschützt sein sollen, etwa vor Wucherpreisen für Lebensmittel in Zeiten schlechter Ernte. Getreu der Mahnung Karls des Großen, er möge ein »Vater der Armen« sein, verteilt Ludwig täglich Almosen.
Als Höhepunkt seiner Regentschaft gilt die 81 7 auf der Aachener Reichsversammlung verkündete »Ordinatio imperii«, in der er seine Nachfolge festlegt. Immerhin geht es um die Einheit des christlichen Reiches. Nach dem üblichen zeremoniellen Präludium – Fasten, Beten, Almosen verteilen – einigt man sich auf Folgendes: Lothar, der älteste Sohn Ludwigs, wird Mitkaiser und damit Thronanwärter; er soll einmal die »Francia« zwischen Loire und Rhein regieren. Von seinen jüngeren Brüdern erhält Pippin Aquitanien; an Ludwig geht Bayern mit slawisch besiedelten Grenzregionen. Vetter Bernhard darf vorerst Italien behalten, jedoch wird er noch im selben Jahr wegen eines Aufstands geblendet und stirbt kurze Zeit später. Dass Lothar allein Kaiser sein soll, widerspricht der fränkischen Erbregel, die gleichrangige Teilung vorsieht – und sollte nach Ludwigs Tod zu langen Querelen führen. Allerdings hatte schon Karl der Große, als seine Söhne Pippin und Karl noch lebten, Karl zum Haupterben erkoren. Ludwigs neue Ordnung betont nun ausdrücklich das Kaisertum, was Karl der Große noch unterließ. Der kommende Kaiser – Lothar – soll nun nicht nur Haupterbe sein, er hat auch das Sagen im Reich. Ohne sein Placet kann keiner seiner Brüder heiraten, und er allein bestimmt die Außenpolitik.
Im Übrigen geht es Ludwig vorrangig um die intensivere Verchristlichung der Reichsvölker – die er als Hebel politischer Integration ansieht. Das alte Volkskönigtum wird überboten durch eine kaiserliche Ordnung oberhalb aller Stämme. Die Einheit des Reichs unter dem Kaiser, fasst der Historiker Egon Boshof zusammen, sei »gottgewollt«, ja »Teil und Widerspiegelung der umfassenderen Einheit des Corpus Christi, der sancta ecclesia«, unter deren Schutz immerwährender Friede herrschen solle – letztlich in der gesamten Welt.
Dass dieses grandiose Vermächtnis scheitert, hat nicht zuletzt mit einer starken Frau zu tun. Kurz nach Irmingards Tod 818 erwählt Ludwig, der sich zunächst ins Kloster zurückziehen will, die attraktive und intelligente Judith zur Gemahlin. Doch die machtbewusste Frau aus sächsisch-welfischer Grafenfamilie, die auch die Beziehungen zum Ostteil des Reiches zu bessern verspricht, versteht es gut, Menschen in ihrer Umgebung gegeneinander auszuspielen.
Judith wird wohl ohne formalen Akt durch die Ehe mit Ludwig Kaiserin. Das aber bringt beim zweiten Kind aus dieser Ehe – einer Tochter namens Gisela folgt 823 der Sohn Karl, genannt »der Kahle« – die dynastische Ordnung aus den Fugen: Dem Sohn der Kaiserin stünde kein geringeres Erbe zu als den anderen Kaisersöhnen. Verbissen kämpft Judith darum, dass ihr Sprössling nicht zu kurz kommt. Ihr Gemahl Ludwig muss die 817 erarbeitete Regelung seiner Nachfolge ändern. Als Taufpaten Karls des Kahlen – und damit als Fürsprecher – gewinnt Judith ausgerechnet dessen Halbbruder Lothar, der zusagt, Karl bei der Erbfolge angemessen zu berücksichtigen. Es beginnt ein Machtspiel von epischen Ausmaßen, das manchmal an ein Shakespeare-Drama erinnert, manchmal an eine Seifenoper. Auf der Wormser Reichsversammlung vom August 829 gelingt Judith ein Coup. Kaiser Ludwig, seiner Frau äußerst zugetan, überträgt dem sechsjährigen Karl als vorweggenommenes Erbe einen attraktiven Teil der Francia: Alamannien, Elsass, Churrätien (südöstliche Schweiz) und einen Teil Burgunds. Dieser Batzen wird aus dem Herrschaftsbereich Lothars herausgeschnitten – was einer weiteren Reichsteilung gleichkommt, obwohl noch kein neues Unterkönigreich ausgerufen wird. Lothar wehrt sich; nun kommt es zum Bruch mit dem Vater. Der Kaiser entzieht ihm die Mitregentschaft und schickt ihn wieder nach Italien, das nach Bernhards Tod ohne König ist.
Immerhin war Lothar bisher »Zweiter in der Herrschaft« an der Seite des Kaisers. Diese Stelle übernimmt als Kämmerer nun der
Weitere Kostenlose Bücher