Karlas Umweg: Roman (German Edition)
offensichtlich gestört. Ich schaute zu Marie hinüber. Sie bekam gerade von Harald Gernhaber eine Gabel voll Käsehäppchen in den Mund geschoben. Es war eine ausgesprochen vertraute Geste. Sie hielt seine Gabel fest und sah ihm einen Moment mit diesem gewissen Leuchten in die Augen. Ich entledigte mich meiner Zigarette, weil mir davon ganz übel wurde, und wendete mich wieder Ludger zu. Nicht dass ich auch nur die geringste Lust auf seinen Braten hatte, aber ich wollte mit ihm eine vertrautere Basis erreichen. So hungrig und gierig ich aber auch auf sein Essen guckte, er kam nicht auf die Idee, mir eine Gabel davon in den Mund zu schieben.
Schweigend zerkleinerte er das graue, sehnige Fleisch und zerkaute es konzentriert und penibel. Sein Adamsapfel vollführte einen Salto nach dem anderen. Irgendwie war ich doch ganz froh, keinen Sauerbraten mitessen zu müssen. Ich bestellte mir ein viertes Bier. Marie legte nun ihre Hand auf Harald Gernhabers Schulter, weil sie sich vorbeugte und ihr Gegenüber etwas fragen wollte. Ich tat das auch. Ich legte meine Hand auf Ludgers Schulter, quetschte meine Brust zwischen ihn und seine Sauerbratengabel und fragte mein Gegenüber, ein pubertäres dickes Mädchen mit Brille und strähnigen Haaren: »Was tust du denn so, wenn du nicht im Kirchenchor singst?«
»Ich tu halt schaffe«, sagte die Dicke und widmete sich dann wieder ihrer Schweinshaxe. Hilfesuchend blickte ich zu Marie hinüber. Sie hob gerade ihr Glas und sah Herrn Gernhaber tief in die Augen. Herr Gernhaber hob auch sein Glas und sah Marie auch tief in die Augen. Genaueres konnte ich nicht feststellen, weil ich ihn ja nur von hinten sah. Ich nahm also mein Bierglas und sah Ludger tief in die Augen. Dazu musste ich mich ziemlich tief Vorbeugen, denn er kratzte gerade mit Vehemenz auf seinem Apfelmusteller herum.
»Wusste gar nicht, dass du schreibst«, sagte er zwischen zwei Löffeln Apfelmus unvermittelt. Ein Gespräch bahnte sich an!
»Ach nein?«, sagte ich erfreut.
»Was schreibst du denn?«
»Tagebuch«, sagte ich und warf ihm einen geheimnisvollen Blick zu.
»Komme ich darin vor?«, fragte Ludger.
»Klar«, erwiderte ich schadenfroh.
»Ich habe auch mal Tagebuch geschrieben«, sagte Ludger und tupfte sich mit der Serviette den Mund, die Stirn und die Nase ab. »Da war ich aber noch ein kleiner Junge.«
»Aha«, sagte ich.
Marie stand nun auf und Herr Gernhaber zog ihr den Stuhl zurück. Lachend und winkend verabschiedete sie sich. Der Chor und das Orchester zollten ihr nochmals frenetischen Beifall, diesmal durchsetzt mit anerkennenden Pfiffen. Die Männer am Tresen johlten. Herr Gernhaber brachte Marie zur Tür und hielt sie ihr auf. Marie winkte noch einmal kurz und zwinkerte mir zu. Herr Gernhaber winkte und zwinkerte nicht. Aber er verließ mit Marie das Lokal.
»Es waren hauptsächlich Gedichte«, sagte Ludger. »Wenn du willst, lese ich sie dir vor.«
Für meinen letzten Beitrag habe ich drei Tage gebraucht. Ich konnte eben immer nur dann schreiben, wenn Marie mich gerade nicht brauchte. Als Erstes brauchte sie mich dazu, Willem für sie anzurufen und ihm zu sagen, dass alles bestens sei. Sie selbst war an dem Tag absolut nicht in der Lage, mit Willem zu telefonieren, weil sie sich »echt ganz irre in den Harald verknallt« hatte. Es kostete mich schreckliche Überwindung, Willem zu sagen, dass alles in Ordnung sei. Aber insgeheim sah ich meine Chancen bei Willem wachsen. Eines Tages verlässt ihn Marie. Da bin ich mir absolut sicher.
Der Tenor, Clemens Matulka, hat sich eine Stimmbandentzündung zugezogen und ist mit seiner Freundin, der wasserstoffblonden Statistin, vorzeitig abgereist. Vielleicht hatten sie auch eine Beziehungskrise, mutmaßt Marie. Die Statistin fand es nämlich gar nicht partnerschaftlich von Clemens, Marie statt ihrer mit zu Herrn Wolkes großem Scherz zu nehmen. Mindestens die Rolle der Refrainsängerin vor der Windmaschine hätte dienstgradmäßig ihr zugestanden, hat sie argumentiert.
Marie hat sich angewöhnt, während der Aufführung zu kichern. Ich finde das unprofessionell, aber andererseits erreicht Marie dadurch eine erhöhte Aufmerksamkeit. Raffiniert! Jedenfalls guckt Harald Gernhaber sie nun pausenlos an, während er geigt, außer bei der Solo-Arie, weil er da die Augen schließt.
Marie hat mir erzählt, dass sie so eine intensive innerliche Spannung noch nie vorher bei einem Mann erlebt habe. Harald habe ihr durch sein Geigenspiel von der ersten Minute an
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