Karlas Umweg: Roman (German Edition)
Tränen aus den Augen wischte. »Du armes Kind«, stöhnte sie schwach vor Lachen, »das muss ja eine scheußliche Nacht gewesen sein!« Ich fand, dass es jetzt genau der richtige Moment war, Marie danach zu fragen, wie sie es immer anstellt, so aufregende und romantische Liebesnächte zu verbringen. Leider kam in dem Moment eine Dame ins Abteil, die uns böse musterte und dann »Das Beste« las, und so mussten wir unsere Unterhaltung vertagen. Schade. Aber ich war schon ganz nah dran: Marie ist bereit, mich in die Kunst des Männerverführens einzuweihen.
Wir sind wieder zu Hause. Maximilian kann richtig laufen!! Als wir mit dem Taxi auf dem Kiesweg vorfuhren, torkelte er gerade zwischen dem Springbrunnen und Willem hin und her – mindestens sieben Meter! Wir waren begeistert und sind auf der Wiese herumgesprungen und haben Maximilian immer wieder zum Brunnen und zurück laufen lassen und dabei Beifall geklatscht und »Bravo« gebrüllt. Nun will Maximilian für jeden Schritt, den er geht, Beifall haben. Das ist ziemlich anstrengend.
Die Pfingst-Feiertage waren ruhig und gemütlich. Marie war einige Male bei Dr. Holzapfel, weil sie nun die Gernhaber-Affäre mit ihm analysieren muss. Jeden Morgen um neun hat sie den Harald für zehn Minuten getroffen. Er ist ihr nämlich nachgereist, wie sich das für echte und wahre Liebende gehört. Marie hat, wie sie zugibt, nicht ganz unabsichtlich, ihr kleines Necessaire bei ihm im Badezimmer stehen lassen. Harald hat sich sofort per Anhalter auf den Weg gemacht, um ihr das unersetzliche Kleinod zu bringen. Schwanzwedelnd stand er am Bahnsteig, als wir ankamen, um Marie ihr Täschchen zu überreichen. Es war mir ganz recht, dass er die Sache selber in die Hand genommen hat, sonst hätte Marie womöglich wieder mich geschickt. Harald hat sich in einem ganz kleinen schäbigen Hotel einquartiert und kommt täglich zu der Telefonzelle neben den Altpapier- und Flaschencontainern am Stadtpark, nur um Marie kurz zu sehen. Sie gehen dann in gebührlichem Abstand nebeneinander durch die Grünanlagen, ohne Hund oder Kind, einfach nur so, um sich auszutauschen und das unbändige Gefühl ihrer starken Zuneigung auszuleben. Da Doktor Holzapfel Marie dringend davon abgeraten hat, Willem von Harald zu erzählen, macht sie ein inniges Geheimnis daraus. Aber genau das macht ihr natürlich wahnsinnigen Spaß: sie findet es ungeheuer romantisch, auf so einfachen Wegen der Liebe zu wandeln, so schlicht und so naturverbunden, wie in vielen Generationen vor ihr die jungen Frauen auch mit ihren Geliebten durch Feld und Flur gewandelt sind. Ich finde es toll von Marie, dass sie in der Lage ist, von ihrem Luxus-Niveau mit feinsten Hotelsuiten und Galadiners herabzusteigen auf das schlichte Niveau eines naturverbundenen Stradivari-Sammlers. Sie muss diesen Harald Gernhaber wirklich gern haben.
Am Tag nach Pfingsten hatte Willem noch frei. Da Marie wieder mit Herrn Zurlinde über den Wettbewerbsvorbereitungen saß, hat Willem plötzlich Lust bekommen, mit mir Tennis zu spielen. Es war unsere zweite Tennisstunde und es war wunderbar. Ach, wie sieht Willem doch gut aus in seinen Tennisshorts und seinem weißen Polohemd! Er trug nagelneue Adidas-Turnschuhe und sein Schläger war genau von derselben Marke. Selbst die Socken hatten das gleiche Zeichen, und die Schweißbänder an seinen Handgelenken auch. Sein Rasierwasser war herb und männlich, und als ich mich hinter ihn stellte, um ihm die Schlägerhaltung zu zeigen, schnupperte ich heimlich an ihm. Wir übten den Aufschlag, aber Willem ist nicht besonders begabt. Als er alle sechzig Bälle verschlagen hatte, war er ganz schön geschafft. Ich habe gesagt, er solle sich ausruhen, und habe die sechzig Bälle wieder aufgesammelt. So ging die Stunde mit Willem leider viel zu schnell vorbei. Nachher fragte er mich, ob ich mit ihm noch etwas trinken wolle. Einen Sprudel oder so. Und ob ich wollte!
Wir saßen in der Werkskantine; weil wegen der Pfingstferien ja niemand da war, konnte sich Willem ruhig mit mir hintrauen. Als er sich mit seinem Sprudel aus dem Automaten mir gegenüber setzte, lächelte er mich herzlich und warm an. Ich glaubte, nicht mehr weiteratmen zu können. Jetzt! Jetzt war der Moment da, wo er sagen würde: Karla, ich spüre, dass ich mich von Marie befreie. Warte noch ein bisschen, dann werden wir ein Paar sein. Er sagte jedoch nach dem Lächeln nur: »Du bist eine geduldige Tennislehrerin. Macht Spaß mit dir!«
»Mit dir aber auch«,
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