Karlas Umweg: Roman (German Edition)
Erste-Klasse-Abteil. Matthäus zu erwähnen hatte ich mich nicht getraut.
»Also, er nahm mich mit nach Hause«, leitete ich die zähe Geschichte ein.
»Das ist doch prima!«, freute sich Marie. »Und weiter?« Sie kicherte erwartungsvoll.
»Zu Hause zeigte er mir seine Wohnung. Er hat ein Aquarium mit drei Goldfischen darin. Im Wohnzimmer steht ein Tisch mit vier Stühlen, ein Fernseher und eine Stereoanlage. Nichts von allem hat Ludger selbst gebastelt. Es stehen Bücher im Regal mit Titeln wie: ›Die Angst des Lehrers vor seinem Schüler‹, ›Die antiautoritäre Erziehung und ihre Folgen‹, ›Der Lehrer ist immer der Dumme‹. Allerdings gibt es auch eine private Abteilung mit Krimis, Science-Fiction-Romanen, Kochbüchern für Singles und Bildbänden über das Bergwandern.«
»Aha«, sagte Marie. »Und weiter?« Komisch, dass sie für die Inneneinrichtung seiner Wohnung kaum Interesse hatte.
»Also wir haben dann eine Schallplatte angehört«, sagte ich.
»Sitzend oder liegend?«, fragte Marie.
»Er stand und ich saß.«
»Und weiter?«
»Es war eine ziemlich öde Schallplatte mit nicht enden wollendem Unterhaltungsorchester. Im Hintergrund zwitscherte ein Spatz. Unentwegt. Das sollte wohl romantisch sein.«
»Ja und? Wann seid ihr endlich ins Bett gegangen?« Marie wurde langsam ungeduldig.
»Wir haben erst mal geredet«, sagte ich.
»Auch wichtig«, meinte Marie.
»Wir haben über Körperfeindlichkeit geredet«, berichtete ich. »Ludger hatte eine körperfeindliche Erziehung, deshalb hat er auch noch keine gelöste Einstellung zu seinem Körper. Er arbeitet noch daran.«
»Also ihr habt zusammen an seinem Körper gearbeitet?«, drängelte Marie.
»Ja«, sagte ich. »Wir haben lange darüber geredet.«
»Geredet?« Marie war ehrlich irritiert.
»Ich habe ihm erzählt, dass ich eine körperneutrale Erziehung hatte«, sagte ich. »Bei uns zu Hause wurde überhaupt nicht über so etwas gesprochen. Es war ein ganz neutrales Thema. Kein Für und kein Wider. Ganz einfach egal.«
»Ja und weiter?«
»Ludger hat festgestellt, dass er wegen seiner körperfeindlichen Erziehung bis jetzt noch keinerlei Drang verspürt hat, mit einer Frau den Geschlechtsverkehr zu vollziehen.«
Marie begann zu husten. »Und das hat er so gesagt?«
»Genau so. Und dann habe ich herausgearbeitet, dass ich selbst wegen meiner körperneutralen Erziehung und den körperfreundlichen Einflüssen meiner momentanen Umgebung nun durchaus bereit bin, Geschlechtsverkehr mit einem Mann zu haben.«
»Hast du ihm das so gesagt?«, jauchzte Marie.
»Genau so. Warum?«
»Da war er bestimmt bestens in Stimmung! Und weiter?«
»Wir haben also beschlossen, dass wir die Körperlichkeit erst langsam angehen lassen wollen, schon aus Rücksicht auf Ludgers körperfeindliche Erziehung.«
»Also Knutschen«, sagte Marie. »Das ist doch schon mal was.«
»Nein«, sagte ich. »Das wäre entschieden zu viel gewesen. Wir haben nur beschlossen, uns nebeneinander ins Bett zu legen.«
»Wie ungeheuer erotisch!«, spottete Marie.
»Na ja«, räumte ich ein. »Ich hatte es mir anders vorgestellt.«
»Was hast du dir anders vorgestellt?«
»Ja also, als ich da so neben Ludger im Bett lag, fand ich es eng und ungemütlich. Er wollte seine Füße nicht in die Decke einwickeln, sondern kalten Wind von unten an den Beinen haben. Ich selbst muss meine Füße aber immer einwickeln, sonst kann ich nicht schlafen. Außerdem hatte Ludger einen schwarzweiß gestreiften Pyjama an, der nicht weichgespült und ungebügelt war und den er bis zum Hals zugeknöpft hatte.«
Marie kreischte und strampelte mit den Beinen. Dabei verschüttete sie den Rest von dem Champagner. Meine Schilderungen schienen sie wirklich zu begeistern.
»Und dann hatten wir eine lange Diskussion darüber, wer an der Wand schlafen musste. Ich hatte darum gebeten, weil ich doch Gast war, dass ich außen schlafen dürfte. Falls ich lieber aussteigen wollte. Aber Ludger hat gesagt, er müsse nachts mehrmals austreten, weil er eine schwache Blase hat, und deshalb müsse er darauf bestehen, dass er außen schläft. Da lag ich also an die grau-gelb gemusterte Tapete gedrückt und hatte keine Wahl, als mit eiskalten Füßen dem Morgen entgegenzuharren. Das Schlimmste aber war«, sagte ich nachdenklich, »dass der Ludger nach Zahnpasta roch. Es war so eine aufdringlich frische Sorte, die ich nach wenigen Minuten nicht mehr ertragen konnte.«
Marie war nun so begeistert, dass sie sich die
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