Karlas Umweg: Roman (German Edition)
Tränenausbruch nahe war. Weil wir beide kein bisschen satt geworden waren, bestellten wir noch etwas mit viel Kalorien.
»Määnens an Palatschinkn?«, fragte der Oberkellner schüchtern. Marie wollte keinen Schinken.
»Etwas Süßes!«, sagte Marie sehr ungehalten.
»A Möhlspääsn?«, fragte der Kellner. Ein Schweißtropfen glitzerte auf seiner Oberlippe.
»Kenne ich nicht«, sagte ich streng. »Haben Sie nicht irgendetwas mit viel Zucker und viel Kalorien?«
In diesem Moment näherte sich ein Gast vom Nachbartisch, der unserer kleinen Inszenierung schon länger amüsiert zugeschaut hatte. »Ich höre, die Damen kennen sich in der österreichischen Küche nicht so aus«, sagte er. »Mein Herr Schwiegerpapa und ich wären sehr erfreut, wenn die Damen mit uns zusammen eine Spezialität des Landes verspääsn würden.« Eigentlich wollten Marie und ich uns lieber in Ruhe unterhalten, und die Sache mit dem österreichischen Kavalier vom Nachbartisch kam mir nun gar nicht so gelegen, zumal der Schwiegervater einen scheintoten Eindruck machte. Aber Marie schien großen Gefallen an diesem Herrn zu finden und deswegen zogen wir zu ihnen an den Tisch um. Der Schwiegerpapa war Anfang neunzig und völlig zahnlos. Erfreut wackelte er mit dem spärlich behaarten Haupt, als er der überraschenden Errungenschaft seines Schwiegersohnes gewahr wurde.
»Zwei fesche Hasen!«, krähte er vergnügt und wackelte mit dem Kopf.
Der Schwiegersohn stellte sich vor und sagte, dass er der Solo-Cellist im Festspielorchester sei. Ob wir hier auch zufällig mit Musik zu tun hätten!? Marie kreischte begeistert. Und ob sie mit Musik zu tun hätte! Sie sei die jüngste Jurorin des internationalen Gesangs-Wettbewerbs und sänge im Abschlusskonzert die Carmen! Unter Eugen Paterne!
Der Schwiegervater hatte offensichtlich nichts verstanden, freute sich aber, weil wir uns freuten, und hob sein Glas. Das wackelte im gleichen Rhythmus wie sein Kopf. Der Schwiegersohn freute sich noch mehr. Sie hätten heute ihre erste Orchesterprobe mit Eugen Paterne gehabt. Es sei sehr aufschlussreich gewesen. Paterne sei streng, aber gerecht. Die ganze Probe habe auf Französisch stattgefunden.
»Spricht er etwa kein Deutsch?«, fragte ich ahnungsvoll. Ich stellte mir Erna Pfefferkorn vor, wie sie sich vor dreißig Jahren auf Französisch mit ihm verständigte. Leider konnte ich diesen schlüpfrigen Gedanken nicht mit Marie teilen – schade um den schönen Gag. Der Schwiegersohn räumte ein, dass Paterne sehr wohl Deutsch spreche, dass er aber aus reiner Arroganz von seinem Orchester erwartet habe, dass es ihn verstünde. Marie war begeistert. »Was für ein Mann!« Der Schwiegervater fragte, ob er auch wissen dürfte, was gesprochen würde, und der Schwiegersohn brüllte ihn an, dass es eigentlich bis jetzt noch nichts gäbe, was ihn inhaltlich interessieren könnte.
»Mein Schwiegervater ist ein bisschen schwerhörig«, brüllte er uns dann an. Wir schrien zurück, dass er nicht so zu schreien brauchte. Dann bestellte der Schwiegersohn doch einen Palatschinken. Wir redeten noch über dies und das, aber weil das Reden den Schwiegervater langweilte, gingen wir dazu über, uns von den beiden verschwägerten Herrschaften das Bein tätscheln zu lassen: Marie sich von dem Solo-Cellisten und ich mir von dem Tattergreis. Marie sagte später im Taxi, dass das leider vonnöten gewesen sei, denn mit Hilfe des Solo-Cellisten könne sie leichter an Eugen Paterne herankommen, möglichst noch vor dem offiziellen Vorsingen. Ich sagte ihr, dass sie sich nicht entschuldigen müsse, da ich selbst aus dem heutigen Abend nur hätte lernen können. Schließlich war der Tattergreis genau das richtige Versuchskaninchen, um mich auf einen mittelalterlichen Professor einzustellen. Und letztendlich kann ich es dann mit Willem aufnehmen.
Marie hat sich natürlich postwendend mit diesem Cello spielenden Hartmut getroffen, der sich des Nachnamens »Rosenmondt« mit dt erfreut. Ich bin mir nicht sicher, ob Marie diesen Menschen deshalb so anziehend findet, weil er so charmant und musikalisch ist, oder weil er ihr eventuell die Bekanntschaft mit ihrem Herrn Vater ermöglichen kann. Wobei Marie ja nicht im Geringsten ahnt, dass es sich bei Paterne um ihr eigen Fleisch und Blut handelt, aber ich werde mich laut Pfefferkorn’scher Weisung aus den Familienangelegenheiten heraushalten. Es liegt mir auch völlig fern, Marie davon abzuhalten, ihren eigenen Vater zu verführen, wenn ich
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