Karlas Umweg: Roman (German Edition)
also die alten Kolleginnen und die Kollegen schlechthin), bitte, denken Sie an meine Worte, wenn sie ihm morgen gegenüber stehen werden … verlieren Sie alle Scheu, wie sie ja auch vor der Jury Ihre Scheu verloren haben, als sie merkten, dass Sie Ihren Stimmbändern, Ihren sonstigen Fähigkeiten vertrauen dürfen … Er ist ein Mensch wie Sie und ich, meine Damen und Herren, und er ist vielleicht ebenso gespannt auf die erste Begegnung mit seinen jungen Interpreten des diesjährigen Preisträgerkonzertes, wie Sie auf ihn. Sicherlich ist auch für einen Dirigenten von solchem Rang und Namen die erste Begegnung mit seinen Künstlern unendlich wichtig, ja, ich denke, wir sollten alle daran denken, wenn wir ihm morgen zum ersten Mal gegenüberstehen. Zeigen Sie, dass Sie Profis sind, meine lieben Preisträgerinnen und Prsstrgr… (trink nicht soviel, Mann! dachte ich besorgt), und darauf einen Dujardin!« Er war froh, seine Rede glücklich in die Endkurve gebracht zu haben und hob sein Glas. Die jungen preisgekrönten Stimmbänder – und -innen – lachten und klatschten. Marie aß Pudding. Sie dachte wahrscheinlich darüber nach, ob es Zweck hatte, die Nacht mit einem beschwipsten väterlichen Professor zu verbringen und seinen Heimwerkererlebnissen zu lauschen oder ob sie sich nicht zweckmäßigerweise für ihre erste Begegnung mit Eugen Paterne schonen sollte. Echtwein warf ihr einen glasigen Blick zu. Ob er noch mit ihr proben wollte? Jedenfalls war es ein würdiger, ein stilvoller Abend, und die Rechnung ging sowieso an den Bundesmusikrat e.V.
Heute Nacht passierte etwas Schreckliches. Marie erlag einem Anfall von Husten, Schüttelfrost und Hysterie. Ich versorgte sie, so gut es ging, mit Aspirin und kalten Halswickeln, aber es half nichts: Heute Morgen hatte sie über 39,5 Fieber. Wie ungerecht doch die Welt sein kann! Wo sie doch gestern Abend nach einem sehr kurzen Spaziergang mit Echtwein zu dessen Hotel sofort nach Hause gekommen ist! Na gut, zugegeben, sie hat noch bis zwei Uhr mit Dr. Holzapfel ihr Innenleben analysiert, aber dann war sie auch schon im Bett! In welchem, ist mir momentan nicht bekannt. Morgens um fünf jedenfalls hatte sie Durchfall und Erbrechen, und ich kümmerte mich um sie. Zweckmäßigerweise rief ich um acht Uhr den diensthabenden Arzt, Herrn Dr. Vettelhuber, Franz Alois, und stand besorgt und zitternd vor Panik vor dem Zimmer, während Dr. Vettelhuber Marie den Puls fühlte und ihre Zunge besichtigte und auf ihrem Bauch herum drückte und was ein Doktor der Medizin sonst noch so zu tun pflegt. Mir gingen schreckliche Gedanken durch den Kopf: Marie ist krank und kann im Preisträgerkonzert nicht auftreten. Sie wird niemals ihrem Vater begegnen, sie wird niemals nach Paris gehen und niemals die Carmen singen. Ich werde niemals Willem bekommen und niemals glücklich werden. Gut, dass Dr. Vettelhuber nach einer halben Stunde wieder herauskam und mir ein ellenlanges Rezept in die Hand drückte. Ich besorgte in der Apotheke all das Kraut, was der federhutgeschmückte Doktor Vettelhuber in wilder Hast aufgeschrieben hatte, und setzte mich dann neben Maries Bett. Sie erbrach sich noch ein paar Mal, aber Durchfall hatte sie keinen mehr. Sie fieberte und phantasierte vor sich hin. Entsetzlich, elendiglich, und ganz und gar ungerecht! Wieso traf es Marie ausgerechnet jetzt, wo sie anständig gewesen war und im Begriff, auf völlig neutrale Weise ihren Vater kennenzulernen?
Müde und frustriert sank ich auf meinen Stuhl nahe der Lagerstatt. Meine Gedanken übertrafen sich gegenseitig an Schwärze. Marie reist ab, weil sie sterbenskrank ist. Willem begleitet sie in ein Sanatorium, wo sie trotz Vanille-Eis-Beuteln auf ihren Stimmbändern stirbt. Willem errichtet ein Grabmal ganz aus Vanille-Eis welches ständig durch Kühlelemente unter minus fünf Grad gehalten werden muss. Diese Maßnahme schafft Arbeitsplätze für alle vierzig Familienmitglieder von Frau Krotoschyin. Marie und Harald Gernhaber sterben eng umschlungen in einem Gemeinschaftsschlafraum der Jugendherberge. Nur eine einsame Geige aus Harald Gernhabers Brotkasten hält klagend Totenwache. Marie stirbt in den Armen von Heyko Zurlinde in seinem selbstgebastelten Büro. Die Söhne hämmern einen Sarg zusammen. Die graue Vorzimmermaus ruft ein Bestattungsinstitut an. Dabei verwählt sie sich und fängt an zu lachen. Marie stirbt in der Umklammerung von Siegmund Sterz auf der Bühne. Sie wird geradezu zerquetscht. Tausende von
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