Karlas Umweg: Roman (German Edition)
Zuschauern brüllen vor Wonne. Die Sterbearie hat Überlänge. Das Publikum spendet tosenden Beifall. Marie wird von dem kindischen Tenor Clemens Matulka in den Orchestergraben geschubst, wo sie an einem Kontrabass zerschellt. Der zahnlose Schwiegervater lacht sich kaputt, und Rosenmondt mit dt spielt auf seinem Cello ein Scherzo. Marie wandert unerkannt und stimmlos mit Edwin Echtwein als blinder Passagier nach Amerika aus. Dort stirbt sie in der Wüste von Death Valley an Unterernährung und Halluzinationen. Echtwein spielt auf einem Klavier, das gar nicht existiert. Marie stirbt durch die Eifersucht von Robert, dem Entenhalter, der sie ins offene Küchenmesser von James Holzapfel laufen lässt. Marie stirbt durch einen Sturz vom Barhocker, als sie gerade mit Rainer dem Agentenheini aus Düsseldorf einen Tango tanzen will.
Nach über einer Stunde dieser trüben Gedanken kam Dr. Vettelhuber gedankenvoll an mir vorbei geschritten. »Marie schläft jetzt. Sie sollen sich das grüne Kostüm anziehen und zu Paterne gehen. Vermeiden Sie es, ihm vorzusingen, aber überzeugen Sie ihn davon, dass Marie die beste Carmen aller Zeiten ist!«
Ich tat, wie geheißen und ließ mich im hoteleigenen Rolls Royce zu Paternes Landsitz im Salzkammergut fahren. Eine Haushälterin in weißer Schürze öffnete die Tür. Ich hieß den Chauffeur warten und warf ihm einen Geldschein lässig auf den Schoß. Er tippte an seine Mütze.
Paterne stand in seinem Musikzimmer und dirigierte einige Enten, die vor seinem Fenster auf dem See quakten. In der anderen Hand hielt er eine Partitur. Es war »Carmen«.
»Frau von Otten, treten Sie näher«, sagte Paterne und legte die Partitur auf den Flügel. Ich trat näher.
»Legen Sie ab«, sagte Paterne und die Haushälterin zerrte an Maries Nerzmantel.
»Den lasse ich an«, sagte ich. »Mir ist letztens in einem ähnlichen Etablissement schon ein Ozelot weggekommen!«
»Wollen Sie nicht zuerst Platz nehmen«, sagte Paterne. Die Haushälterin schob mir einen Sessel in die Kniekehlen. Ich sank darauf nieder. Paterne ging zum Flügel und spielte ein paar Takte der Habanera. Er sah ganz gut aus für einen Mann Mitte sechzig. Weiße Haare, leichte Fönwelle, Hausjoppe in weinrot und Jeans. Der total lässige Freizeitlook für den weit gereisten Dirigenten. »Ich denke an dieses Tempo«, sagte Paterne und pfiff das Tempo, an das er dachte.
Ich nickte. »Prima Tempo!«
»Und die Seguedilla«, sagte Paterne und spielte das andere Motiv.
»Ist gebongt«, sagte ich.
Paterne blickte mich verwundert an. »Die Kartenarie …«, sagte er und wollte wieder einige Takte spielen.
»Geht auch klar, die Kartenarie«, sagte ich lässig. »Gar kein Problem. Egal welches Tempo.«
Paterne stutzte.
»Ich meine, ich singe sowieso alles, was Sie wollen!«
Herr Paterne hörte auf, an seinem Flügel Leitmotive aus »Carmen« zu klimpern und sagte zu der Haushälterin, sie möge eine Erfrischung bringen.
»Sie sprechen ja doch deutsch!«
»Wie meinen, gnädige Frau?«
Ich blickte mich suchend um, aber es war keine gnädige Frau zu sehen. »Na ja, Hartmut, das ist der Solo-Cellist aus Ihrem Orchester, der sagt, Sie sprechen nur französisch, weil sie ein arroganter Hammel sind.«
»Frau von Otten, ich denke, wir sollten jetzt ein wenig über Sie sprechen und nicht mehr über mich«, sagte Paterne.
»Ist klar, machen wir«, sagte ich. Bis jetzt, fand ich, hatte ich Marie großartig vertreten. Es sollte noch soweit kommen, dass Paterne überhaupt nicht merken würde, dass ich gar nicht Marie war! Ich beschloss, ihn in eine Plauderei zu verwickeln, sodass er das Vorsingen völlig vergessen würde.
»Also?«, fragte Paterne. »Was hatten Sie für eine Ausbildung?«
»Eine prächtige!«, beeilte ich mich zu sagen und lächelte ihn an.
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Na ja, Abitur habe ich ›glaub‹ ich nicht, aber meine Mutter hat mir das Singen beigebracht und mein Gatte hat eine Vanille-Eis-Fabrik«, sagte ich selbstbewusst und schlug die Beine übereinander.
»Wo haben Sie studiert?«
»Am Konservatorium«, wusste ich wahrheitsgemäß zu antworten.
»Bei wem?«
»Ein väterlicher Professor. Er ist ein begnadeter Heimwerker. Erst letztens hat er mit Hilfe seiner Söhne in der Garage einen Weinkeller …«
«Frau von Otten, ich möchte Sie doch um vollständige Beantwortung meiner Fragen bitten!«
»Ja, mach ich, ist klar. Also Heyko Zurlinde hieß der Mann. Ist aber nicht mehr wichtig.«
»Der
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