Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Karlas Umweg: Roman (German Edition)

Karlas Umweg: Roman (German Edition)

Titel: Karlas Umweg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
Vom Netzwerk:
ließ.
    Vielleicht würde er sich zur Feier des Tages womöglich sogar umziehen? Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass er sich nur wegen eines lumpigen Festspielpublikums und einem Dutzend Fernsehkameras eventuell dazu herablassen würde, seinen überdimensionalen Körper in einen Frack zu werfen! Tief beeindruckt blickte ich hinter ihm her, bis er hinter der Tür »Bühnenbereich – Durchgang strengstens untersagt!« verschwand.
    Ich wendete mich wieder Willem zu und hielt ihm mein Sektglas hin, und zwar mit der Seite, an der kein Lippenstift klebte. Willem lehnte dankend ab.
    »Glaubst du, sie hat mit ihm geschlafen?«, fragte er und blickte wieder auf seine Zehen, weil sie wieder wippten. Der Lack auf seinen Schuhen spiegelte beim Wippen die mannigfache Lichterpracht der Kronleuchter. Ein gigantisches Farbenspiel.
    »Nein«, sagte ich. »Eine Frau spürt so was. Es gibt einfach Tabus. Ich würde zum Beispiel nie mit dem Mann meiner besten Freundin schlafen …« Das kam der Wahrheit nicht wirklich nahe, aber ich wollte, dass Willem mich endlich ein bisschen schätzen lernt.
    Die Leute strömten weiter an uns vorbei. Es wurde Zeit, sich ebenfalls wieder logenwärts in Bewegung zu setzen. Weil ich eine Frau bin, die immer die Initiative ergreift, zog ich Willem am Ärmel. Er trabte hinter mir her, die marmorne Freitreppe hinauf. »Nein, das würdest du wirklich nicht tun«, sagte Willem dicht hinter mir. »Weil du eine großartige Frau bist, Karla.« Ich blieb abrupt stehen und drehte mich um. Willem, der wieder auf seine Lackschuhe geblickt hatte, prallte an meinen Busen. Einige Leute, die sich noch auf den Treppen begrüßt hatten, prallten an Willem. Willem prallte noch einmal an mich, und ich stellte erfreut fest, dass das Zusammenprallen mit Willem nicht unangenehm war. Ach, was würden wir noch häufig zusammenprallen, in guten wie in schlechten Zeiten, wenn ich jetzt nur die richtigen Worte fände!
    »Willem!«, sagte ich und winkte den irritierten Leuten, sie sollten doch bitte zügig an uns Vorbeigehen. Bei einem erneuten Aufprall einer Dame im Dirndl an Willem geriet ich ins Wanken und setzte mich vorsichtshalber auf eine Stufe. Die Leute drängten sich kopfschüttelnd an uns vorbei. Die Logentüren schlossen sich. Wir waren allein.
    »Ich gehe jetzt zu Marie und sage es ihr.« Willem schien dem unerträglichen Zustand seiner Ehe ein abruptes Ende setzen zu wollen.
    »Willem!«, sagte ich. »Vielleicht nicht gerade vor ihrem Auftritt!«
    »Doch«, beharrte Willem. »Oder hat sie jemals auf den richtigen Zeitpunkt Rücksicht genommen?« Zu meiner großen Verwunderung drückte er mir einen Kuss auf den Mund.
    Er sprang auf und rannte zu der Tür mit dem Schild »Bühneneingang – Durchgang strengstens verboten«. Einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich ihm hinterher laufen sollte, aber ich beschloss, die an diesem Stück beteiligten Personen wenigstens zeitweise sich selbst zu überlassen. Den Genuss des zweiten Teiles wollte ich mir nun wirklich nicht entgehen lassen. Ich schlich also rein in die Loge und mogelte mich, Entschuldigungen murmelnd, auf meinen Platz. Unten auf der Bühne stand eine dicke, gelbe Pampelmuse auf Beinen. Das Orchester spielte gerade das Vorspiel zu »Carmen«.
    »Ja, die Liebe hat bunte Flügel.« Auf einmal hörte ich das Stück mit ganz anderen Ohren.
    Die! Liebe! Hat! Bunte! Flügel! Fragt! Nicht! Nach! Gesetz! Und! Macht!! Meine Güte, dachte ich, das singt Marie mir seit Monaten täglich vor, und nie habe ich begriffen, was eigentlich dahinter steckt!
    Manche Kunstkenner, die das Stück wieder erkannten, murmelten wissend. Die Pampelmuse war oben angeschnitten; das war der üppige Busenritz. Ganz oben quoll ein rosa Marzipanschwein heraus, das war der Kopf von Sieglinde. Das Marzipanschwein öffnete den Mund, der Busenritz bebte, und dann flogen die mächtigen fetten Töne durch den Saal, hallten in unserer Loge wider und prallten an den marmornen Säulen ab. Sieglinde befleißigte sich einer geradezu trotzig-intellektuellen Übersetzung des Stückes. Sie behauptete singend: »Wie ein Wildvogel ist die Liebe, den keiner zähmt, er fliegt doch frei, flattert fort, wenn man will er bliebe, und lockt man, kommt er nicht herbei.« Wenn sie selbst dieser flatternde Wildvogel war, dann Prost Mahlzeit. Vielleicht ein Vogel Strauß? Das ist jedenfalls der dickste Vogel, den ich mir vorstellen kann. Er kann noch so viel flattern, er wird sich nie in die Lüfte erheben, sondern

Weitere Kostenlose Bücher