Karlas Umweg: Roman (German Edition)
fütterndes!
In der staubigen Garderobe mit den alten Perücken und hochgestellten Stühlen sang Marie sich dann ein. Die Übungen waren mir schon vertraut. Ehrlich gesagt hatte ich mir heute Nachmittag die Langeweile damit vertrieben, sie auszuprobieren. Zum Singen braucht man kein Klavier, und der Frust, dass solche Instrumente nicht erreichbar oder abgeschlossen sind, ergibt sich beim Singen nicht.
Wir traten auf. Marie war sehr angespannt, als ich sie aus ihrer Garderobe holte. Mit gefasstem Gesicht schritt sie vor uns her auf die Bühne hinaus, gefolgt von Echtwein mit hängender Fliege und mir, die ich die Noten und die Last der Verantwortung trug. Ich hatte den Eindruck, dass sie den ganzen Tag gestritten hatten. Schrecklich. So eine Sängerin braucht doch Ruhe und Harmonie. Hätte ich Marie vor Echtwein beschützen sollen? Und mit ihr den Tag verbringen? Nein. Papa und Mama haben mich gelehrt, mich niemals irgendwo aufzudrängen. Willst du was gelten, so komme selten. Sagt Mama immer. Marie sang:
Auch kleine Dinge können uns entzücken
Auch kleine Dinge können teuer sein
Bedenkt wie gern wir uns mit Perlen schmücken
Sie werden schwer bezahlt und sind nur klein
Bedenkt wie klein ist die Olivenfrucht
Und wird um ihre Güte doch gesucht
Denkt an die Rose nur wie klein sie ist
Und duftet doch so lieblich wie ihr wisst!
Leider war es im Publikum recht spärlich besetzt.
Auch halb volle Säle können uns entzücken, auch ein Dutzend Zuhörer können teuer sein.
Hier ist es nun schon wesentlich städtischer, in diesem hübschen Marktflecken am Neckar. Es gibt einen historischen Marktplatz und eine Fußgängerzone, die ungelogen an die siebzig Meter! lang! ist! Die Mehrzweckhalle hier ist schon seit Tagen ausverkauft, sagte der hiesige Hausmeister! Allerdings fasst sie auch nur knapp hundert Menschen, aber eben welche mit Kunstverstand! Dementsprechend angespannt sind auch meine beiden zu betreuenden Künstler. Ich verhielt mich also den ganzen Tag still und unauffällig. Inzwischen ist mir klar, wie wichtig es für Künstler ist, dass ihr Betreuer zwar ständig anwesend, aber doch weitgehend unsichtbar ist.
Nur, wenn der Künstler etwas braucht, muss der Betreuer sofort zur Stelle sein, mit Rat und Tat. Ansonsten hat er sich in Luft aufzulösen.
Echtwein habe ich seit dem Mittagessen nicht mehr gesehen. Er war wortkarg und übellaunig. Ich muss wirklich versuchen, mich selbst nicht so wichtig zu nehmen. Wenn die ersten Konzerte vorbei sind, kann ich sicher auch mal selber üben.
Heute haben sie bei der Probe plötzlich aufgehört. Sie waren gerade bei dem Lied von Hugo Wolf.
Wir haben beide lange Zeit geschwiegen
Auf einmal kam die Sprache wieder
Die Engel die herab vom Himmel fliegen
Sie brachten nach dem Krieg den Frieden wieder
Die Liebesengel kamen über Nacht
Und haben Frieden meiner Brust gebracht
Da haben sie die Probe nicht mehr fortgesetzt. Jedenfalls nicht mehr auf der Bühne der Mehrzweckhalle. Vielleicht in ihrem Hotelzimmer, das mag schon sein. Leider schloss Echtwein im Liebestaumel den Flügel ab, sodass ich wieder nicht üben konnte.
Es war ein riesiger Erfolg gestern Abend! Marie sah nicht nur aus wie eine Königin, sie sang auch wunderschön.
Ich war sehr stolz auf Marie. Nachher war noch ein Empfang beim Bürgermeister. Ich war aber nicht eingeladen. Vielleicht hatte es Marie nur versäumt, mich mitzunehmen. Da habe ich meine Chance gewittert und mich in den Saal zurückgeschlichen. Der Flügel war noch nicht abgeschlossen und ich habe geübt! Es war wundervoll. Noch ganz angefüllt von Maries letzten Klängen habe ich auch mal diese Carmen-Arie versucht. Ganz leise natürlich, nur für mich. Die Klavierbegleitung ist einfach. Die Akustik in dem städtischen leeren Saal war berauschend und ich habe für mich selbst ein richtiges Konzert gegeben: statt meine Sonaten und Etüden zu spielen, habe ich einfach Maries Liederprogramm nachgesungen. Es war ein fantastisches, befreiendes Gefühl, noch nie habe ich so einen Glücksrausch erlebt! Ich stellte mir vor, dass der Saal bis auf den letzten Platz besetzt wäre, und meine Eltern säßen ganz vorn in der ersten Reihe! Nachher war ich so glücklich, dass ich mich in alle Richtungen verbeugt und selber laut »Bravo!« gerufen habe.
Gestern Abend nach dem Konzert hat mich Marie gefragt, ob ich Lust habe, mit ihr essen zu gehen. Echtwein müsste noch ein paar Arpeggien üben. Ich glaube aber, sie hatte einfach keine Lust auf
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