Karlas Umweg: Roman (German Edition)
nett!
Die Stadtbesichtigung war in zwanzig Minuten erledigt, weil die Stadt lediglich aus renovierungsbedürftigen kleinen Häusern, Hinterhöfen und buckligen Stiegen besteht. Die Einkaufsmöglichkeiten sind auch begrenzt: ein Lebensmittelladen, ein Handarbeitsgeschäft für die gelangweilte Hausfrau, mit Brokatbezügen zum Seiberbesticken, und dann gibt es noch einen Laden, in dem man Gießkannen, Gartenzwerge und Rührschüsseln erstehen kann. Ich habe das alles ausführlich besichtigt und sitze nun wieder im Hotel »Zur Gans«. Mein Zimmer ist ganz oben unter dem Dach, und das Klo ist auf dem Gang neben der Treppe, wo es nach Meister Proper und Schlachtplatte riecht.
Es ist im Moment vielleicht ein ganz kleines bisschen unbefriedigend, dass ich nicht Klavier üben kann. Leider gibt es in diesem Dorf kein Instrument außer dem verstimmten von der Muddä seelisch und natürlich dem Flügel in der Mehrzweckhalle. Ob ich heute Nachmittag wohl dort etwas üben kann? Sonst wird mir der Tag hier sehr lang werden, besonders, weil es draußen in der wenig interessanten und kaum besichtigungswerten Innenstadt ein wenig kalt und windig ist. Wie gut, dass ich in solchen Momenten die Kladde Regina habe. Sie hilft mir über manchen toten Punkt hinweg. Aber wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich hier genauso überflüssig und untätig wie in Bad Orks an der Musikschule. Nur mit dem Unterschied, dass ich hier kein Geld verdiene, kein Zuhause habe, Papa und Mama weit weg sind und ich keinem kleinen Bengel die C-Dur-Tonleiter beibringen kann. Hier gibt es noch nicht mal eine Regina, die einen am Ärmel zieht und am Weitergehen hindert. Ich sehne mich heute sogar nach den Gernot-Geschichten. Ich glaube, ich werde krank.
Drei Stunden später: Marie und Echtwein haben unten in der Gaststube zu Mittag gegessen. Jetzt haben sie sich zwecks Konzentration und Entspannung zu einem Mittagsschlaf zurückgezogen. Ich werde also versuchen, in die Mehrzweckhalle einzudringen. Mir brennt es auf den Nägeln, mindestens vier Stunden zu üben! Schließlich ist mir meine Karriere unheimlich wichtig! Marie ist mein Vorbild, was das betrifft. Die lässt sich nicht beirren, die hat ihr Karriereziel klar vor Augen, die begibt sich in keinerlei emotionale Abhängigkeit.
Es war deprimierend. Die Mehrzweckhalle war leer und tot und vor allen Dingen abgeschlossen. Ich ging mehrmals darum herum, klopfte an Türen und Fenster und drückte mir die Nase platt, um wenigstens einen Blick auf den Flügel zu werfen, der einladend auf der Bühne stand und zu stundenlangen Beethovensonaten einlud. Ich hätte vor Sehnsucht heulen können. Entschlossen ging ich zur Hausmeisterwohnung. Der freundliche, begeisterungsfähige Mensch mit dem hessischen Akzent würde mir doch bestimmt den Schlüssel geben!
Auf mein Klingeln hin öffnete ein dickes Mädchen mit einer Rührschüssel in der Hand, aus der es heißhungrig mit dem Suppenlöffel Pudding verschlang. Dabei kamen ihre Pferdezähne zum Vorschein, die sie offensichtlich völlig erfolglos hinter einer Zahnspange zu bändigen versuchte.
»Hallo«, sagte ich, »ich hätte gern den Schlüssel für die Mehrzweckhalle. Ist der Hausmeister da?«
»Mai Vadder isch net da und isch waiß kai Bschaid«, sagte das Mädchen zwischen zwei Löffeln Pudding. Dann knallte sie mir wortlos die Tür vor der Nase zu, um ihre Mahlzeit ungestört fortsetzen zu können.
Tja, das war’s.
Gegen sieben Uhr abends endlich war der öde Tag zu Ende. Marie klopfte an meine Tür und verlangte, frisiert zu werden. Nicht dass ich im Haaretoupieren besonders begabt wäre, aber als angehende Pianistin kann es mir gar nicht schaden, mich mit der Materie einmal zu befassen. Außerdem war ich unendlich dankbar, endlich aus meiner Kammer rauszudürfen. Seit zwei Stunden schon hatte ich fertig angezogen auf dem Bett gesessen und das Blättern geübt! Wir gingen dann nervös schweigend und innerlich aufgewühlt hinter Echtwein her, der mit langen Schritten über das Kopfsteinpflaster vorausschritt, zur Stätte seines künstlerischen Wirkens und Schaffens. Marie trippelte auf hochhackigen Lackschuhen mit gerafften Röcken hinterher und ich trug die vielen schweren Noten. Wie wir da so unter den misstrauischen Blicken der Einheimischen im Dunkeln über den Marktplatz eilten, kam ich mir ungeheuer wichtig vor. Wir Künstler! Wir haben jetzt eine Aufgabe vor uns, deren Größe und Bedeutung ihr nicht mal zu erahnen imstande seid, niederes Volk, Hühner
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