Karlas Umweg: Roman (German Edition)
mir keine Sorgen machen. Weg war er. Ich spürte dieses fiese Kribbeln in der Nase, wenn einem die Tränen kommen und man sich nicht gestatten will, loszuheulen.
Gestern Abend habe ich Mama und Papa angerufen und ihnen meine neue Adresse mitgeteilt. Mama war begeistert, Papa nicht. Das ist typisch: Mama lässt sich blenden von dem Reichtum und der Schönheit, die Marie ausstrahlt. Papa denkt in erster Linie an mich: Ob ich auch meine eigenen Interessen berücksichtigen könne, fragte er.
»Im Moment nicht«, gab ich leise zu.
»Das heißt, du kannst nicht jeden Tag vier Stunden üben?«
»Noch nicht mal eine halbe, Papa«, sagte ich kleinlaut.
»Das ist dann wohl der Preis für die ovale Badewanne«, sagte Papa knapp. »Du musst wissen, was dir der Luxus wert ist. Verkauf dich nicht unter Niveau.«
»Aber Robert!«, hat Mama dazwischengerufen und ihm den Hörer aus der Hand gerissen. »Sei froh und dankbar, dass du in solche Kreise kommst, Karla!«, sagte sie streng. »Andere Mädchen können dich um solche Kontakte nur beneiden. Von Marie kannst du übrigens viel lernen. Sieh dir mal genau an, wie sie sich anzieht und wenn sie sich schminkt. Guck dir ruhig mal etwas davon ab! Und deine Arbeit mit dem Kind ist die beste Möglichkeit, dich auf dein späteres Leben vorzubereiten. Andere Mädchen gehen dafür extra auf eine teure Haushaltsschule!«
Papa sagte im Hintergrund: »Sie will aber doch Pianistin werden und nicht Haushälterin!«
»Ach Robert, du hast ja keine Ahnung! Die Karla hat gar nicht das Zeug zu einer Solistin. Bestenfalls wird sie Klavierlehrerin; da kann sie schon froh sein, wenn sie wieder in einer Musikschule unterkommt. Nein, man muss seine Chancen ergreifen. Es kommt im Leben oft anders, als man denkt. Karla soll sich gut benehmen und Marie fleißig zur Hand gehen. Du sollst sehen, Kind, es zahlt sich aus. Vielleicht lernst du in diesen Kreisen sogar mal einen passenden Mann kennen. Aber Kind, höre auf den wohl gemeinten Rat deiner Mutter: Achte als Erstes etwas sorgfältiger auf dein Äußeres. In diesen Kreisen legt man Wert darauf.«
Ich hatte schon wieder tierisch die Schnauze voll von Mama. Wie hat sie das nur wieder wissen können, dass ich aussehe wie eine Hinterhofschlampe! Auf dem Pulli Spuren von abgewischtem Rotz, auf dem Busen je ein Kakaofleck und ein Milchbäuerchen, auf dem Schoß Kleckse von erbrochenen Keksen und auf dem Schuh ein Rest Durchfall. Das Mondkalb wacht auf. Zwei dicke Speckhändchen erscheinen unter der Wolldecke und wischen in zwei verschlafenen Äuglein herum. Also auf nach Hause und den warmen Kakao gekocht! Schnell. Sonst brüllt er. Und dann stellen mich wieder wildfremde Leute zur Rede, warum ich das Kind so mäste.
Große Überraschung! Matthäus hat mich besucht. Als ich mit Maximilian den Kiesweg raufkeuchte, stand er da in seiner schwarzen Gammeljacke und drehte sich eine Zigarette.
Olga schnüffelte erfreut um ihn herum. Wahrscheinlich roch er nach Marihuana.
»Karla Breitarsch«, hat er mich fröhlich begrüßt. »Man sieht dich ja gaanich mehr inne Übeschlange und beim Essenfassen aunich!«
»Keine Zeit«, sagte ich matt.
»Du biss nächste Woche mit deinem Referat über Schumann dran, haste wohl voll versiebt, woll?«
Ich freute mich so sehr, ihn zu sehen, dass ich ihn umarmt habe. Er roch bittersüß nach kaltem Rauch, Leder und Schweiß.
»Bisse jetzt hier die Anstandsdame oder wat?«, sagte Matthäus, als ich ihn in meine Mansarde geführt hatte. »Dat waa doch wohl ganz klaa die Spelunke vonne Omma!«
»Ja«, sagte ich, »kann schon sein. Der Vogelkäfig wurde jedenfalls nicht für mich angeschafft.«
»Nee, und die Glotze mitn Kabelanschluss aunich, kannze ‘n Ei drauf schlagen«, sagte Matthäus. Er drehte sich eine Zigarette. Dann betrachtete er Maximilian, den ich aus seinem Overall geschält hatte: »Meine Fresse, ist der feist!«
Ich lachte. »Ja, nicht? Im wahrsten Sinne des Wortes!«
»Ey, du fette Schnecke«, sagte Matthäus und kitzelte Maximilian mit seinen langen, nikotingelben Fingern unterm Doppelkinn.
»Da!«, sagte Maximilian und ließ sich auf den Po plumpsen.
»Nix da!«, sagte Matthäus ungnädig. »Nich aufn Aasch fallen lassen und die Kaala kann dich rumschleppen! Auf, auf, du dralle Vanille-Bombe, stell dich maa auf die fetten Stampferchen und dann rumlaufen, wie andere Kinder das auch machen!«
Zu seinem großen Erstaunen wurde Maximilian unsanft auf die Beine gestellt und durchs Zimmer geführt. Er
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