Karlas Umweg: Roman (German Edition)
lernt man sowieso am meisten.
Marie hatte dieses Leuchten in den Augen. Es war völlig ersichtlich: Edwin war abgemeldet. »Karla, du kennst dich doch in der Opernszene aus«, begann Marie ihre Enthüllungen.
»Na ja«, sagte ich. »Nicht wirklich. Wir haben in Bad Orks keine Oper.«
»Nenn mir mal einen ganz berühmten Bassisten«, drängte Marie wie in einer Quizshow. Sie platzte vor Mitteilungsdrang. Ich wollte die Sache nicht unnötig in die Länge ziehen.
»Rudolf Schock«, riet ich ins Blaue hinein.
»Quatsch!«, entrüstete sich Marie. »Erstens ist der tot und zweitens war er Tenor.«
Ich dachte angestrengt nach. Jetzt bloß keinen Fehler machen. Ein wirklich berühmter Bassist ist doch der dicke Russe mit der Filzmütze. Ivan Reblaus.
»Nein«, brüllte Marie und zitterte wie der Sherry in ihrem Glas. »Nimm mich jetzt ernst, ich ertrage es nicht!«
Ich unterließ es also, Heino oder Roberto Blanco zu nennen, und saß stumm und hörig zu ihren Füßen. »Also wer?«
Marie drehte und wendete sich wie ein Pfau im Kurpark von Bad Orks, wenn er fotografiert wird. Dann gab sie feierlich den Namen preis: »Siegmund Sterz.«
Ich wartete auf eine Erklärung. Nichts. Siegmund Sterz.
»Kenne ich nicht.« Totale Panne. Ich bin kein Insider, szenemäßig.
Pause. Schweigen. Dann Entsetzen: »Du kennst SIEGMUND STERZ nicht?«
»Nein«, bedauerte ich. »Aber du kennst ihn vermutlich.«
»Und ob ich ihn kenne«, schwärmte Marie. Dann erging sie sich in ausgiebigen Schilderungen über den potenten Siegmund, und zwar zuerst, wie er auf der Bühne war, nämlich einzigartig und unverwechselbar, begehrt und zu Höchstgagen engagiert, und dann, wie er im Bett war, nämlich potent bis zum Abwinken, extravagant und reichlich anspruchsvoll.
Da ich mich nicht wieder blamieren wollte, nickte ich nur beifällig. Das führt ja zu nichts, dachte ich, wenn ich jetzt wieder zugebe, immer noch keinen Sex gehabt zu haben. Das würde sie völlig vom Thema abbringen. Es ist ja schon erschreckend, wie wenig ich vom Leben weiß. Weder kenne ich die Millionäre der Stadt noch die angesagten Fünf-Sterne-Hotels, geschweige denn die Suiten mit ihren Badewannen, in denen man Dinge tun kann, die ich gar nicht tun will! Ich habe einfach von nichts eine Ahnung. Meine bürgerlichen Wertvorstellungen engen mich total ein. In einer Sache hat Mama Recht: von Marie kann ich viel lernen.
Siegmund Sterz also. Marie konnte nicht damit aufhören, von seinen sängerischen und auch sonstigen Qualitäten zu schwärmen. Er sei ein ganzer Kerl, ein Baumfäller von einem Mann, über zwei Meter zehn groß und auch zweieinhalb Zentner schwer. Dementsprechend groß seien auch gewisse Körperteile von ihm … jubelnd küsste sie ihr Sherryglas.
»Na prima!«, sagte ich. »Dann hattest du ja eine schöne Zeit.« Nicht dass so etwas wie Verbitterung in meiner Stimme mitgeklungen hätte. Nein, wirklich nicht. Ich gönnte Marie ihren Spaß wirklich. Um Willem tat es mir ein bisschen leid. Aber ich spürte ganz genau, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war, das Thema auf Willem zu bringen. Marie ließ sich auch nicht im Geringsten die Laune verderben und berichtete mir weiter ausführlich von Siegmund Sterz. Seine Stimme sei so abnorm tief, sagte sie, dass er für einen Sarrastro Höchstgagen auf internationalem Niveau verlangen könnte.
»Na toll«, sagte ich, ehrlich beeindruckt.
»In unserer Aufführung war er der kluge Alte«, sagte Marie. »Der alle Fäden in der Hand hält und die beiden Paare zum Partnertausch verleitet.« Wegen mir hätte er auch der weiße Riese sein können, ich hatte keine Ahnung von der Materie. So oder so nicht. »Ich als Dorabella musste zwar die Geliebte von einem Bariton spielen«, sagte Marie mit einem Leuchten in den Augen, »verliebe mich aber laut Handlung in den Tenor. Aber in Wirklichkeit, also hinter der Bühne, erlag ich dem schwarzen Bass. Da war was los, kann ich dir sagen.«
»Toll«, sagte ich aufmunternd. Schließlich wollte ich ja lückenlos alles erfahren, aber ich brauchte sie gar nicht weiter zu drängen. Sie wollte sich ausschütten vor Begeisterung.
»Mein Gott, was ist das für ein Mann!«
»Hat er eine Ente?«, fragte ich vorsichtig.
»Meinst du, welchen Wagen er fährt? Einen Mercedes XL 250!«
»Nein, ich dachte mehr an das Haustier im Garten«, sagte ich. Schließlich war ihr das vor Kurzem noch sehr wichtig.
»Ach so«, sagte Marie erfreut. »Er hat ein Pferd!« Dann erzählte sie mir, dass
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