Karlas Umweg: Roman (German Edition)
weiter, aber es war kein Ohrenschmaus. Frau Pfefferkorn bestand darauf, uns noch ihre Version der Carmen vorzusingen. Ich musste sie begleiten. Es war ein völlig überflüssiges Unterfangen.
Später, als Willem wiederkam, ganz rot im Gesicht und kalt und mit Spuren von Frost in den Haaren, lächelte er mich an und sagte: »Sag mal, Karla, du kannst so toll Klavier spielen. Kannst du zufällig auch noch Tennis spielen?«
»Ein bisschen«, hielt ich den Ball flach.
»Nachdem du meiner Frau, meiner Schwiegermutter und meinem Sohn schon bei so vielen Dingen hilfst: Könntest du es mir beibringen?«
»Ja, spielen Sie denn nicht sowieso schon Tennis?«
»Ich habe noch nicht den richtigen Partner gefunden …«
»Und Sie meinen, ich …?«
»Es käme auf einen Versuch an!«
Jetzt habe ich schon zwei Verabredungen: eine mit Frau Pfefferkorn zu ihren Gesangsstunden und eine mit Willem zum Tennis. Das Leben kann doch schön sein.
Heute war ich zum ersten Mal im Gesangsunterricht bei Frau Pfefferkorn. Sie wohnt in einem renovierten Altbau im sechsten Stock. Zwischen sehr vielen alten gedrechselten und unnötig verzierten Möbeln steht ein oller, schwarzer Flügel. An dem sitzt sie und hackt Tonleitern. Die Schüler stehen vor ihr in der Mulde des Flügels und lassen sich hypnotisieren; Die Töne, die sie aus ihren angstverzerrten Gesichtern hervorbringen, klingen bange und jammervoll und erinnern mich an Wilhelm Busch: »Jedes legt noch schnell ein Ei, und dann kommt der Tod herbei.« Erna schimpft und tadelt, sie droht und stößt wüste Prophezeiungen aus. »Sie werden es nie zu was bringen, wenn Sie weiter so schlampig atmen!« Oder: »Aus Ihnen wird eher ein Metzger als ein Sänger, Sie unsensibler Mensch!« Ich als ihre Schülerin würde im Boden versinken und nur noch ein ängstliches Röcheln hervorbringen. Nicht so die begabten, betuchten und von sich überzeugten Eleven, die natürlich ausnahmslos aus gutem Hause stammen! Da war heute als Erste eine Maid im Dirndlkleid, etwa Anfang zwanzig. Ihr künstlerisches Antlitz zierte eine energische Hakennase, sie sah aus wie ein junger Habicht, und sie zwitscherte Pamina. »Ach ich fühl’s, er iiist entschwunden«, begann sie und stellte sich verbotenerweise bei »iiist« auf die Zehenspitzen, weil das der höchste Ton war. Erna drosch mit einem langen hölzernen Lineal dazwischen: »Lassen Sie das Gezappel sein. Sie wollen keine Zirkusartistin werden, sondern Sängerin!« Der Habicht sang unverdrossen weiter. »Fühlst du niiicht der Leber Sehnen!«
»Der LIEBE Sehnen«, schrie Frau Pfefferkorn wütend dazwischen. Der Habicht errötete und sang das Gleiche noch mal. »Fühlst du niiiiicht der Leber Sehnen …«
Ich dachte an Essen drei in der Mensa und musste grinsen.
»Können Sie mit Ernst bei der Sache bleiben«, fuhr die Meisterin mich an. Und zu der Schülerin: »Liebe Sehnen! Man versteht ja kein Wort! Liebe! Wissen Sie, was Liebe ist!«
»O ja!«, freute sich der Habicht.
»Dann singen Sie dementsprechend! Denken Sie an die Liebe!«, fauchte Frau Pfefferkorn.
Ich wiederholte die Stelle auf dem Klavier. Diesmal kam »Fühlst du niiicht der Leber Sehnen« mit einem herzzerreißenden Schluchzen.
Frau Pfefferkorn verdrehte die Augen zum Himmel und schaute auf die Uhr. »Genug jetzt. Sie haben noch viel zu lernen, öffnen Sie das Fenster und rufen Sie mich wegen eines neuen Termins nach Weihnachten an. Am besten erst im Neuen Jahr. Legen Sie sich das Ganze zurecht und denken Sie darüber nach.«
Der Habicht öffnete das Fenster und flog davon.
Frau Pfefferkorn kochte uns Kaffee, bis zum nächsten Schüler war ja noch gut eine halbe Stunde Zeit.
»Marie war die Einzige, die Talent hatte«, sagte Frau Pfefferkorn und streute zwei Süßstoffpillen in ihre Tasse.
»Wieso hatte?«, fragte ich.
»Na ja, was macht sie denn damit!«, rief die Mutter entrüstet. »Sie haben wohl noch an keinen Mann ihr Herz verloren.«
Es würde zu nichts führen, wenn ich ihr anvertraute, dass ich mein Herz an ihren Schwiegersohn verloren hatte, deshalb sagte ich schlicht: »Nicht dass ich wüsste.«
»Ach Kind, Sie sind so unschuldig und naiv«, sagte die Mutter. »Marie fühlt sich krankhaft zu den Männern hingezogen. Das liegt mit Sicherheit daran, dass sie keinen Vater hatte.«
Frau Pfefferkorn hat mir dann die ganze Geschichte erzählt. Vor dem Krieg war sie im Staatsopernensemble. Und da sei ein junger Repetitor gewesen, berichtete Frau Pfefferkorn, der mit ihr
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