Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Karlas Umweg: Roman (German Edition)

Karlas Umweg: Roman (German Edition)

Titel: Karlas Umweg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
Vom Netzwerk:
unterging. Trotzdem bedankte sich die Leiterin des Heimes hinterher mild und wortreich. Wir wurden alle noch an den Tisch gebeten und mussten Streuselkuchen und Kaffee Hag probieren.
    Frau Pfefferkorn wollte dann unbedingt noch die Carmen-Arien singen. Ich musste sie begleiten. Die Opas und Omas kamen richtig in Stimmung. Viel mehr als bei der frommen Verkündigungskacke, wie Matthäus sich ausgedrückt hätte.
    Marie wollte dann aber ganz plötzlich nach Hause. Ich weiß auch nicht wieso, aber ihre Laune war ohne ersichtlichen Grund umgeschlagen. Die Mutter blieb noch da, um den allgemeinen Beifall und die wohlwollenden Bemerkungen der Heiminsassen zu genießen. Im Auto kriegte Marie einen Weinkrampf.
    »Ich hasse meine Mutter«, schrie sie schluchzend und hämmerte auf das Lenkrad ein. »Sie ist so geltungssüchtig, dass ich kotzen muss!«
    »Aber Marie«, versuchte ich sie zu beschwichtigen. »Sie wollte den alten Leuten eine Freude machen!«
    »Sie will sich selbst profilieren, sonst nichts!«
    »Ach, lass ihr doch den harmlosen Spaß!«
    »Harmloser Spaß! Am Vortag des Heiligen Abends die Carmen-Arien singen! Sie ist fast siebzig!«
    »Aber ihr Publikum war teilweise neunzig!«
    »Weißt du was? Sie will mir nur die Show stehlen!«
    Ich musste zugeben, dass sich auch bei mir dieser Eindruck aufdrängte. Sie schien sich selbst als ernst zu nehmende Konkurrentin ihrer Tochter zu sehen und Marie ließ sich auch noch auf diesen Unsinn ein. Es war ein nicht nachvollziehbares Gerangel. Mutter und Tochter wollten sich gegenseitig in den Schatten stellen.
    Meiner Mama jedenfalls fiele es nicht ein, mich von meinem Klavierhocker zu schubsen, um selber zu spielen. Egal, wie alt das Publikum ist. Meine Mama säße immer in der ersten Reihe. Und wäre stolz auf mich.
    Entgegen aller Vorhersagen bleibt Frau Krotoschyin nicht über die Feiertage bei Maximilian. Also muss ich Mama und Papa anrufen, um ihnen zu sagen, dass ich diese Weihnachten nicht komme. Sie werden traurig sein, besonders Mama, die sich so darauf gefreut hat, dass Stefan und ich vierhändig Schubert spielen. Aber ich kann Marie nicht im Stich lassen. Sie muss in der Mitternachtsmette singen, am ersten Weihnachtstag die Krönungsmesse und am zweiten Feiertag eine Bachkantate. Ganz zu schweigen von der Silvestergala und dem Neujahrskonzert. Nein, nein. Mitgefangen, mitgehangen.
    Heute Nachmittag, als Willem mit Maximilian bei seiner Mutter war, passierte etwas Spannendes. Marie, die mir eigentlich versprochen hatte, dass ich noch etwas üben könnte, schlich mit diesem seltsamen Leuchten in den Augen um das Telefon herum, und richtig: Freund Kammersänger rief an. Siegmund Sterz. Erst dachte ich, er wolle nur frohe Weihnachten wünschen, aber ganz offensichtlich war er in der Stadt. Marie war aufgekratzt wie nie zuvor. Sie zog sich ihr rotes Fähnchen an, schminkte sich mit aller Sorgfalt und stellte eine Flasche Champagner kalt. Dann küsste sie den Kühlschrank.
    »Marie, du willst doch nicht …«
    »Doch, Karla, und du hältst bitte den Mund.«
    »Ist klar«, sagte ich und trollte mich auf meine Mansarde.
    Kurz darauf kam Siegmund Sterz mit seinem Mercedes angefahren. Ich konnte nicht widerstehen, durch das Fenster zu starren und mir dieses Wunder an Potenz und Stimmgewalt anzuschauen. Er ist ein unmenschlich großer, dicker Kerl mit strähnigen Haaren und blatternarbigem Antlitz. Solche findet man im Wachsfigurenkabinett in Berlin auf dem Ku’damm in der Abteilung für Monster. Einmal mehr muss ich mich über Maries Geschmack wundern. Nun ja, es geht mich ja nichts an, habe ich gedacht und mich meinem Tagebuch gewidmet; es war der Beitrag über Marie als Jungfrau Maria, die von keinem Manne weiß. Man hörte unten nichts außer eiligen Klapperschritten über den Marmorflur, als Marie den Champagner holte. Dann wurde es bedenklich still. So still, dass ich sehr genau hören konnte, wie Willem mit Maximilian zurückkam: Autotüren klappten, der Buggy wurde aus dem Kofferraum gehoben … Zuerst stand ich wie ein toter Hase hinter dem Fenster, doch dann kam Leben in mich: Ich stürzte die Treppe runter, schnappte mir meinen Mantel und rannte Willem entgegen, den Kiesweg hinunter.
    »Marie hat noch eine Probe für die Mitternachtsmette«, keuchte ich und zeigte auf den Mercedes vom Sterz. »Ein Dirigent ist da und arbeitet mit ihr. Es ist anscheinend ein wichtiger Mann. Marie bittet uns, dass wir absolut nicht stören.«
    Ich hatte so rote Backen vom vielen

Weitere Kostenlose Bücher