Karlas Umweg: Roman (German Edition)
Lügen, dass ich dachte, jetzt tut sich die Erde unter mir auf. Fast wünschte ich, Willem würde mir eine Ohrfeige geben. Aber er sah mich nur mit einem fragenden Willem-Blick an:
»Also gehen wir noch etwas spazieren?«
»Au ja, dazu hätte ich große Lust. Ich war heute überhaupt noch nicht an der frischen Luft!«
Olga, die Dogge, kam schwanzwedelnd angerannt, begrüßte Willem freudig, schnupperte an Maximilian, der immer noch in seinem Kindersitz auf der Rückbank klemmte, und inspizierte dann den Sterz’schen Mercedes. Misstrauisch schnüffelte sie an der Fahrertür, hob dann das Bein und pinkelte in hohem Bogen an den Kotflügel.
»Olga können wir ja mitnehmen«, sagte Willem. »Ich gehe schnell rein und hole die Leine.«
»Die Leine habe ich bei mir oben«, behauptete ich und raste ins Haus zurück. Vor der Wohnzimmertür, hinter der auffällig wenig gesungen wurde, blieb ich stehen und brüllte: »Willem und ich gehen noch etwas spazieren, wir wollen bei der Probe nicht stören!« Dann schnappte ich mir die Leine und stürzte mit zitternden Knien wieder nach draußen.
Wir gingen den üblichen Weg in den Park; Olga zerrte Willem hinter sich her und ich schob keuchend den Kinderwagen durch den Schnee. Solange es bergauf ging, sagten wir nichts. Das war mir auch ganz recht so. Mir hämmerte immer wieder durch den Kopf, dass ich eine ganz gemeine Komplizin und Anstifterin zur Vielmännerei bin und dass ich mich gegen Willem im Einzelnen und gegen alle Ehemänner im Allgemeinen strafbar mache. Im Park hörten wir dann langsam auf zu keuchen. Unsere Gesichter waren rot vor Anstrengung und unser Atem war in der kalten Luft zu sehen. Willem bückte sich und warf Stöckchen für Olga. Die Dogge schoss wie ein Berserker durch den Schnee und hinterließ Bremsspuren von fünf Metern, wenn sie den Knüppel gefangen hatte. Maximilian zappelte in seinem Lammfellsack herum und wedelte mit den Ärmchen. »Da! Da! Da!«, feuerte er Olga an. Willem hatte ungeheure Energie und schleuderte den Stock bestimmt hundertmal weg, bis Olga schließlich weißen Schaum vor dem Maul hatte. »So, jetzt ist es genug, Olga«, keuchte Willem. »Einmal muss Schluss sein!«
Langsam spazierten wir über die gestreuten Parkwege.
»Was ist das für ein Dirigent?«, fragte Willem zögernd.
»Ich weiß nicht, keine Ahnung, ich habe ihn gar nicht gesehen …«
»Mit dem … Pianisten … arbeitet sie wohl nicht?«, fragte Willem, verlegen darum bemüht, mich nicht in Verlegenheit zu bringen.
»Du meinst, mit Echtwein«, sagte ich und merkte zu meinem Schrecken, dass ich ihn geduzt hatte. Peinlich berührt guckte ich auf die Fußspuren im Schnee.
Willem hatte es nicht bemerkt.
»Ja, mit dem Edwin Echtwein«, sagte er. »Die haben wohl in letzter Zeit recht wenig Kontakt?«
»Ich habe lange nichts von ihm gehört«, sagte ich.
»Hattest du etwa immer noch keinen Unterricht?«
Ich sah ihn von der Seite an. Mir klangen noch seine Worte in den Ohren, die Olga galten: »Einmal muss Schluss sein.«
»Nein, Herr Echtwein hatte noch keine Zeit.«
»Dann werde ich ihn anrufen und das veranlassen«, sagte Willem energisch. Mir fiel wieder ein, wie er mich damals von Frau Fink losgekauft hatte, einfach so, ohne große Worte zu machen. Es tut so gut, dass sich wenigstens einer um mich kümmert! Längst war es dunkel und die Laternen beleuchteten den weihnachtlichen Schnee. Maximilian war in seinem Lammfellsack eingeschlafen und Olga trabte zahm wie ein Lamm hinter uns her. Es war ein herrlicher, friedlicher Heiligabend-Nachmittag, sicher der Schönste, den ich bisher erlebt habe. Als wir lange nach sechs wieder an der Villa ankamen und Seite an Seite den Kiesweg hinaufschoben, war der braune Mercedes mitsamt seinem bepinkelten Kotflügel weg.
Gestern Abend saß ich noch lange an meinem Kammerfenster und starrte hinaus in den Park. Außer Olgas schneebeladener Hütte war jedoch nichts zu sehen. Ich weiß nicht, ob ich ein verwöhntes und eingebildetes Mädchen bin, aber ich habe mir schrecklich gewünscht, dass Marie oder Willem mich fragen, ob ich Lust habe runterzukommen. Sind sie überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass ich allein oben in der Mansarde hocke, ohne Weihnachtsbaum und ohne Braten? Je länger ich wartete, desto trauriger wurde ich. Um halb 12 gingen unten die Lichter aus; sie beleuchteten nicht mehr die Tannen neben der Einfahrt und die Hundehütte. Alles war unendlich still und dunkel. Und plötzlich bohrten sich
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