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Karlas Umweg: Roman (German Edition)

Karlas Umweg: Roman (German Edition)

Titel: Karlas Umweg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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selten.

Heute, am Silvesterabend, wollen Marie und Willem zum Ball der Vanillebarone. Marie muss um Mitternacht singen: »Ich lade gern mir Gäste ein …«
    Marie ist den ganzen Tag mit ihren Haaren und ihrem Make-up beschäftigt. Im KaDeWe hat sie sich ein fantastisches, tief ausgeschnittenes Abendkleid in Weinrot gekauft. Frau Perl und ich haben ihr etwa hunderte von glitzernden Perlen darauf genäht. Willem wird einen Smoking tragen. Die anderen Gäste werden geblendet sein von dem schönen Paar und die Berliner Boulevard-Presse wird sich wieder irgendwas aus den Kugelschreibern saugen müssen! Der Vanillekönig und die schöne Nachtigall im schillernden Gefieder. Leute wie Frau Krotoschyin und Frau Perl und ich werden uns den Zeitungsausschnitt einrahmen und in den gläsernen Wohnzimmerschrank stellen. Solche Leute dürfen wir kennen, werden wir sagen. Für solche Leute dürfen wir arbeiten. Das tun wir auch gerne ohne Geld.
    Habe ich schon erwähnt, dass ich über sieben Kilo abgenommen habe? Marie hat es schon gemerkt und ich bin überglücklich darüber. Sie hat gesagt, dass sie in Kürze mal ihren Schrank ausmisten will, da mir doch jetzt sicherlich einige ihrer Sachen passen. Marie ist eine wahre Freundin.
    Was zeigt uns Karlotta, unser rassiges vollschlankes Model auf der heutigen privaten Silvestergala? Sie gestatten, meine Damen und Herren, dass sie sich zuerst ein Gläschen Wein genehmigt. Nun geht sie aber schon wieder festen Schrittes in ihre Garderobe. Die Friseuse und die Kosmetikerin stehen schon bereit. Hier muss nur noch eine kleine Änderung am Make-up vorgenommen werden: dann zeigt uns Karlotta einige Abendkleider. Diese schwarze Robe aus reinem Samt ist hochgeschlossen und edel. Raffiniert und aufregend der weite Rückenausschnitt: der lange schlanke und makellose Rücken unseres Models darf natürlich nicht durch einen Grauschleier-BH verunstaltet werden. Unser Model nimmt rasch noch einen Schluck Wein, um dann das Ganze noch einmal ohne Büstenhalter vorzuführen. Nein, meine Damen und Herren, sehen Sie selbst, wie unvorteilhaft dieser Rückenausschnitt für die vollschlankere Dame ist. Wir raten unserem Model vom öffentlichen Tragen der »schwarzen Rose« ab. Preis ohne Gürtel: 5000 Mark.
    Unser Model trinkt sich etwas Mut an, bevor sie sich Ihnen, meine Damen und Herren, erneut präsentiert. Karlotta wählt als Nächstes ein völlig trägerloses Schalenkleid in Papageiengrün. Das üppige Dekollete wird von einer soliden Korsage gestützt. Der Busen hebt und senkt sich beim vorsichtigen Ein- und Ausatmen auf reizvolle Weise. Karlotta trägt zu diesem Cocktailkleid unsere raffinierten Strumpf-Strapse aus dem Hause »Palmers«. Das lange vollschlanke Bein wird unterstrichen durch einen hochhackigen Lackschuh in Knallrot, mit samtener grüner Schleife. Dazu wählt Karlotta ein schrilles Make-up, farbenfroh und sinnlich. Die Haare wurden durch Gel zum Stehen gebracht. Frech und witzig. Unser Model wirkt temperamentvoll und unternehmungsfreudig. Welcher Mann auf der Straße wird sich nicht nach dieser eigenwilligen Schönheit umsehen … Karlotta leert ihr Weinglas in einem Zuge. Jetzt ist doch sehr viel Lippenstift am Glase kleben geblieben. Karlotta zieht sich kräftig die Lippen nach und malt dann spielerisch ein großes Herz auf den Schlafzimmerspiegel. Zwei Buchstaben zieren es: »K« und »W«. An wen mag unser molliges Model sein Herz verschenkt haben …?
    Es mag so gegen halb elf gewesen sein, als ich bereits sternhagelvoll war und Maries Schlafzimmerspiegel mit Lippenstift beschmierte. Eigentlich fühlte ich mich ganz prima und wollte nun gerade zu Maries spitzenbesetzter fliederfarbener und schwarzer Unterwäsche übergehen, als es an der Tür klingelte. Die Bodys und Strapse mussten warten. Ich knüllte sie unters Bett, stakste zur Sprechanlage und fistelte: »Hier ist eine geschlossene Gesellschaft: Haben Sie eine Einladung?«
    Irgendwie dachte ich, es sei Matthäus. Ich plante bereits, ihn in Willems Frack zu zwängen und dann mit ihm auf die Straße zu gehen, um das alte Jahr heiter ausklingen zu lassen. Es war aber nicht Matthäus. Es war mein Nicht-Klavierlehrer, Prof. Echtwein. Ich sah ihn durch die Überwachungskamera an seinem Kastenwagen lehnen. Blass, verfroren und mager. So konnte man den armen Kerl doch nicht in der Kälte stehen lassen! Ich riss also die Tür auf und schrie: »Edwin, alter Freund, Sie sind in diesem Hause natürlich immer ein gern gesehener Gast.

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