Karlas Umweg: Roman (German Edition)
egoistische Gedanken in mein Herz: Eigentlich bin ich in die große Stadt gekommen, um Karriere zu machen! Ich will doch Pianistin werden und nicht Dienstmädchen! Ich heulte und fühlte mich richtig ausgenutzt! Wenn man bedenkt, dass andere Dienstmädchen doch immerhin noch einen schmalen Wochenlohn bekommen, oder sogar ein paar Groschen Weihnachtsgeld. Oder ein Geschenk! Naja, man sollte nicht undankbar sein. Schließlich darf ich hier wohnen und in ihrem Umfeld leben. Das ist mehr, als andere unverheiratete junge Mädchen von sich behaupten können. So würde jedenfalls Mama jetzt zu mir sprechen. Ich sollte mich nicht so gehen lassen. Weihnachten werden die Leute immer so rührselig.
Heute Vormittag war ich wieder bei Erna Pfefferkorn, Gesangsschüler begleiten. Die Schülerin war eine dicke Schwammige im überlangen Skipullover und ausgeleierten Hosen. Sie war zum ersten Mal da.
Sie sang aus dem Elias von Mendelssohn: »Sei stille dem Herrn«.
»Das würde ich Ihnen auch raten«, schnaubte die Meisterin, kaum dass die Dicke begonnen hatte. »Shut up, shut up. Wieso singen Sie so blechern? Wer hat Ihnen gesagt, dass Sie die Stimme färben sollen wie ein Kerl? Why do you sing so deep?«
Frau Pfefferkorn war im Englischen drin oder vielleicht wollte sie der dicken Schülerin auch ihr internationales Niveau auf diese Weise nahe bringen.
Die Dicke schwieg stille dem Herrn. Die Schnurrbarthaare auf ihrer Oberlippe zitterten leise. »Ich hätte auch noch eine andere Arie anzubieten«, sagte sie mit baritonaler Stimme.
»Und welche?«
»Schöne Jugendtage«, sagte die Dicke.
»Na, dann man los! Come on.«
Ich bekam die Noten aufgebaut: Sie waren fleckig und speckig und eselsohrig wie ihre Besitzerin.
»O schöhöne Jugendtage«, brummte die Dicke los.
»Nicht so fett«, keifte Frau Pfefferkorn dazwischen. »Sing slim! Singen Sie schlank, auch wenn Sie es nicht sind!«
Die Dicke ließ sich nicht bremsen. Sie drehte noch ein paar Phon auf. Der alte Flügel schepperte.
»Sie wollen wohl ganz hoch hinaus!«, merkte die Lehrerin spöttisch an. »Je lauter, je doller!« Diesen launigen Spruch konnte sie auf die Schnelle nicht ins Englische übersetzen.
Die Dicke ließ sich nicht unterbrechen. Bei »O Wonne-Wooonnne-schöne Zeit« schnaufte sie sich noch fünf Zentimeter Luft in den Busen und trompetete den hohen Ton, dass einem die Ohren wegfliegen wollten. Mir brach der Schweiß aus. Zitternd spielte ich das Nachspiel, aber Frau Pfefferkorn schlug nach mir, ich sollte sofort aufhören mit dem Quatsch.
»Mädchen«, sagte sie zu der dicken Schülerin. »What are you thinking about you are making with your voice?«
»Singing, what eise«, sagte die Schülerin sehr tief und sehr selbstbewusst. »Sie können Deutsch mit mir sprechen.«
»Wer hat Ihnen gesagt, dass ›laut singen‹ auch ›schön singen‹ ist? Sie haben ein kräftiges Organ, aber Sie müssen es pflegen und hegen wie ein widerspenstiges Gewächs, das nach allen Seiten ausufern will. Sie müssen es festbinden und täglich die überhängenden Blätter abschneiden. Nur der Kern ist wahr und schön. Und den müssen wir suchen und fördern.«
»Very interesting«, sagte die Schwammige verwirrt.
»Nun wollen wir mal ganz klein anfangen«, sagte Frau Pfefferkorn. »Für das Literatur-Singen ist es noch viel zu früh. Sie sind Ihrer eigenen Stimme noch gar nicht gewachsen. Zuerst müssen wir wohl mal das Atmen üben. Legen Sie sich flach auf den Teppich!«
Ich rutschte interessiert auf meinem Klavierhocker herum. Hier konnte ich doch noch was lernen! Singing for beginners in six easy lessons. First lesson: to lay on the floor and to take breath.
Die Dicke rollte sich auf dem Teppich aus. Ich sah unter ihre Wanderschuhe: Größe 43!
Frau Pfefferkorn stellte ihrerseits ihren schmalen graubestrumpften Fuß auf den dicken Bauch ihrer Schülerin und sagte: »Jetzt atmen Sie mal!«
Die Dicke schnaubte.
»Nein, viel zu viel! Vorsichtig atmen! Wie durch einen Strohhalm! Saugen, nicht schnaufen! Ja, und jetzt ganz fein ausatmen, als wollten Sie eine Pusteblume wegblasen!«
Die Schülerin blies, dass der Flügel beschlug.
»Vorsichtig blasen! Sie pusten mich ja um! Mein Gott, Sie haben Knoblauch gegessen! Stehen Sie mal wieder auf!«
Das war nicht so einfach. Die Dicke musste erst mit den Beinen Schwung holen, um sich auf die Seite rollen zu können. Dann wälzte sie sich auf die Knie und von dort zog sie sich am Flügel hoch, um schwankend vor der
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