Karlebachs Vermaechtnis
»ausgerechnet Marta … Sie wurde als Erste abgeholt …«
Er verbarg sein Gesicht in den Händen. Dann griff er sein Jackett und stürzte aus dem Kaffeehaus. Wie versteinert klappte ich meinen Notizblock zu. Ich fühlte mich elend und schäbig. Was hatte ich Karlebach zugemutet? Wer erlaubte mir, die schrecklichen Erinnerungen in ihm wachzurufen?
Lea setzte sich neben mich. In ihren Augen schimmerten Tränen.
»Warum?«, fragte sie. »Warum?«
»Wenn ich das wüsste …«
»Warum muss ein Mensch so viel Schreckliches erleben? Warum habt ihr Deutschen sechs Millionen Menschen umgebracht? Unschuldige Menschen. Menschen, die nicht anders waren als ihr!«
»Erwarte nicht, dass ich dir eine Antwort gebe, Lea. Ich weiß es genauso wenig wie du.«
Lea räumte die Weinflasche und die Gläser ab. Die Gespräche an den anderen Tischen kamen langsam wieder in Gang. »Hör auf, Herrn Karlebach zu quälen. Lass ihn in Ruhe!«
27
Am nächsten Freitag kam Schlomo Karlebach nicht ins Kaffeehaus. Ich wartete den ganzen Vormittag auf ihn und vertrieb mir mit Zeitunglesen die Zeit. Als er am darauffolgenden Freitag auch nicht erschien, begann ich mir Sorgen zu machen. Lea war ebenso ratlos wie ich und so beschlossen wir, Eh Levy aufzusuchen, um nachzuforschen, ob Karlebach vielleicht etwas zugestoßen sei. »Wir haben uns lange nicht gesehen«, begrüßte mich Levy freundlich. »Was haben Sie gemacht? Ich hoffe nicht, dass Sie schon geheiratet haben. Denn wenn Sie mich nicht eingeladen hätten, wäre ich Ihnen sehr böse!« Dann entdeckte er Lea. »Oh bitte, verzeihen Sie!« Ich stellte Lea, die mich erstaunt ansah, kurz vor. »Ich habe schon von Ihnen gehört«, sagte Eli, »Sie sind die nette Bedienung in Karlebachs Stammcafe. Bitte kommen Sie herein. Was kann ich für Sie tun? Was führt sie zu mir?«
»Wir wollten Sie fragen, ob Sie etwas über Schlomo Karlebach wissen. Er ist seit zwei Wochen nicht mehr ins Kaffeehaus gekommen.«
»Ich hatte Sie eigentlich schon eher erwartet«, sagte Eli zu mir. »Herr Karlebach ist plötzlich verreist. Wohin, hat er mir nicht gesagt.«
»Wissen Sie, wann er wiederkommt?«
»Nein. Aber er hat einen Brief für Sie hinterlegt.«
Levy überreichte mir einen schweren Umschlag. »Wenn Sie den Brief schon hier lesen möchten, bitte … «
»Danke«, sagte ich. Ein Hauch von teurem Partum signalisierte mir, dass Eli nicht allein war.
»Du willst heiraten?«, fragte Lea, als wir draußen waren. »Blödsinn!«
»Ist es diese Araberin?«
»Ja. Aber bitte fang du nicht auch noch damit an. Es reicht, wenn Mustapha, Yassir und Co. mir keine Ruhe mehr lassen und Fatma lieber heute als morgen mit mir verheiraten würden.«
»Fatma heißt sie? Schöner Name! Wie oft siehst du sie? Wie sind Ihre Eltern? Hat sie Brüder? Liebt sie dich?«
»Lea!«, bat ich verzweifelt. »Du warst bis jetzt die Einzige, die mich nicht ständig auf dieses Thema angesprochen hat.«
»Oh, bitte.« Sie hakte sich bei mir unter. »Wir Orientalen lieben romantische Liebesgeschichten. Wenn zwei sich mögen, wenn zwei sich lieben, wenn sie nach einander dürsten, wenn … Ah, ist das schön!«
»Kauf dir einen Kitschroman!«, brummte ich. »Oder lass dir von deiner Oma die Märchen von Aschenputtel oder vom Froschkönig erzählen.«
»Du bist gemein! Dann sag mir wenigstens, wie oft ihr euch treffen könnt!«
»Selten. Sie muss viel arbeiten. Und ich bin von sonntags bis donnerstags im Land unterwegs oder am Roten Meer.«
»Du gehst ihr doch nicht etwa aus dem Weg?«
Wir hatten endlich unser Ziel, eine Pizzeria im christlichen Viertel, erreicht und ließen uns an einem sonnigen Platz nieder. Ich öffnete Karlebachs Brief.
»Lies vor! Was schreibt er?«
Ich faltete das Briefpapier auseinander. Es waren mehrere Seiten. Karlebach hatte eine gestochene, klare Handschrift. »Lieber Freund! Wenn Sie diesen Brief lesen, haben wir den 5. März …«
»Das stimmt«, unterbrach mich Lea, »heute ist der 5. März.«
»… und ich befinde mich in New York …«
»In New York? Was macht er in New York? Er hat das Land seit zehn Jahren nicht mehr verlassen. Er wird vor Heimweh krank werden.«
»Lea, bitte! Darf ich jetzt weiterlesen?«
»Ja, lies weiter!«
»Bitte entschuldigen Sie mein plötzliches Verschwinden vor vierzehn Tagen. Es hatte nichts mit Ihnen zu tun, aber manchmal, wenn die Erinnerungen aufsteigen, wird es sehr schwer und man möchte lieber alleine sein. Damit Ihnen die Zeit bis zu meiner
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