Karlebachs Vermaechtnis
Festhalten an einer Verbundenheit mit der deutschen Erde, wird dem Vaterland helfen, sich aus seiner vorübergehenden Not zu erheben. Und das genesene deutsche Volk wird den Juden einen Platz in Glück, Ruhm und Ehre einräumen. Das hat mir Großmutter erzählt, als wir 1941 unseren Deportationsbescheid bekamen. Ich habe diese Worte bis heute nicht vergessen. Einen größeren Beweis für einen tragischen irrtum kann es nicht geben.«
Karlebach wiederholte den Satz seines Großvaters auf meine Bitte hin noch einmal. Dann spickte er kurz auf seinen Zettel und redete weiter. »Abwarten hieß die Devise. Abwarten! Die Karlebachs, die Rosenthals und die Grünsteins entschlossen sich, auf bessere Zeiten zu warten. Und ansonsten ihren Alltagsgeschäften nachzugehen, als ob nichts geschehen wäre. Der Entschluss, dem deutschen Vaterland in soldatischer Disziplin bis zum Letzten beizustehen, war gefallen. Und war damit unumstößlich!«
»Ist es nicht etwas naiv«, wandte ich ein, »abzuwarten und bis zuletzt dem Vaterland beistehen zu wollen, wenn man seine Arbeit verliert und aus der Wohnung geworfen wird?«
»Aus heutiger Sicht haben Sie Recht. Aber hören Sie zu: Meine Eltern hatten den Schock, Arbeit und Wohnung verloren zu haben, bald überwunden. Natürlich waren es schlimme Wochen. Das habe ich schon vergangenen Freitag angedeutet. Aber wie viele andere hatten ebenfalls ihre Arbeit verloren? Es war nichts Ungewöhnliches. Meine Mutter - eine tatkräftige, resolute Frau - hatte sich als Erste gefasst. Sie schrieb ihren Eltern einen Brief, ob wir vorübergehend bei ihnen unterkommen könnten. Es gab zwar einige Diskussionen, aber dann sprach Großvater Karlebach ein Machtwort. Die Rosenthals dürften ihre eigene Tochter und Schwester nicht im Stich lassen! Platz genug war da, denn das Rosenthal’sche Haus, das Judenhaus, wie es im Dorf genannt wurde, war groß genug für zwei Familien. Man musste eben ein bisschen zusammenrücken. Und mein Vater konnte sich nützlich machen und die Buchführung der Rosenthals übernehmen. So bin ich als neunjähriger Junge nach Merklinghausen gekommen.«
»Berichten Sie weiter«, bat ich.
»Eine kleine Pause bitte«, sagte Karlebach. »Lea wartet schon eine ganze Weile hinter Ihnen und möchte endlich eine Bestellung aufnehmen.«
»Ich höre viel Neues«, lachte Lea, »da warte ich gerne.« Sie hockte sich auf die Kante des Nebentisches und blickte auf Karlebach herab. »Ich möchte Sie bitte auch etwas fragen, Herr Karlebach.«
»Erst bringen Sie uns bitte zwei Glas Tee. Nein! Heute erlauben wir uns einen Rotwein. Bringen Sie uns einen Rothschild!« Und zu mir gewandt fragte er: »Oder trinken Sie keinen Rotwein?«
»Am Vormittag gewöhnlich nicht«, sagte ich, »aber es gibt keine Regel ohne Ausnahme.«
»Das habe ich mir bei Ihnen schon gedacht«, schmunzelte Karlebach. »Aber sehen Sie es pragmatisch: In Israel beginnt der Tag bei Sonnenuntergang und endet bei Sonnenuntergang. Der heutige Tag …«Er schaute auf die Uhr. »Der heutige Tag also in etwa sieben Stunden. Da dürfen Sie sich auch am Vormittag guten Gewissens einen Tropfen Wein gönnen.«
»Ich gebe mich Ihrer Argumentation gerne geschlagen.«
»L’Chaim!« Karlebach hob sein Glas. »Zum Leben!«
»L’Chaim!« Auch ich hob mein Glas. »Lea, auch Sie müssen heute einen Schluck mit uns trinken! L’Chaim!«
Lea rückte einen Stuhl an unseren Tisch. »Warum gab es in Ihrer Familie keine Zionisten?«, fragte sie. »Wissen Sie, was Großvater Karlebach immer sagte: Was interessiert uns eine Wüstenei in Palästina? Er fühlte sich als Deutscher und wollte Deutscher bleiben. Erez Israel? Das war ein Nirgendwo irgendwo am Ende der Welt. Mose hätte die Kinder Israels auch nach Grönland oder Hinterindien führen können, das wäre Großvater egal gewesen. Nein, mit dem Zionismus hatten die Karlebachs, Rosenthals und Grünsteins nichts im Sinn. Das war ihnen, nun ja, zu sozialistisch, zu revolutionär. Das hatte den Geruch von Arbeiterklasse und Gewerkschaften. Meine Eltern wären nie auf die Idee gekommen, mich in ein zionistisches Ferienlager zu schicken oder gar auf eine Hachschara. Eine Ausbildung in einem landwirtschaftlichen Lehrgut, um sich geistig und körperlich auf das Leben als religiöser Pionier in Palästina vorzubereiten? Undenkbar!
Meine Mutter, wenn ich das noch einfügen darf, hat eine Einwanderung nach Palästina aus pragmatischen Gründen abgelehnt. Unsere Haut sei viel zu empfindlich für
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