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Karlebachs Vermaechtnis

Karlebachs Vermaechtnis

Titel: Karlebachs Vermaechtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe von Seltmann
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davon. Denn die meisten Staaten hatten inzwischen ihre Grenzen für Juden geschlossen oder stellten unerfüllbare Bedingungen.
    Ehrlichmann! hieß es plötzlich. Ehrlichmann ist unsere Rettung. Wenn uns einer helfen kann, dann Ehrlichmann! New York! Amerika wurde zum gelobten Land. Das Ausreisefieber erfasste nun auch die Rosenthals. Hektisch wurden Briefe verfasst, niedere Beamte bestochen, entbehrliche Gegenstände verkauft, Garantiesummen hinterlegt. Es wurde ein Vermögen ausgegeben, um mit Ehrlichmann zu telegrafieren. Irgendwann schrieb er gelangweilt zurück, er werde alles tun, was in seiner Macht stehe. Aber viel Hoffnung könne er nicht machen. Immer verzweifelter wurden die Aktivitäten, immer deprimierender die Stimmung im Rosenthalschen Haus.«
    Eine Gruppe christlicher Pilger aus dem Schwäbischen stürmte das Restaurant und besetzte lärmend die freien Plätze. Ein junger Mann mit einem gelben Hütchen auf dem Kopf stolzierte an unseren Tisch und fragte auf Schwäbisch, ob er sich einen Stuhl nehmen dürfe. »Piss off!« fauchte ihn Lea an. »Fuck your mother, German!«
    Der Schwabe zuckte zusammen und trollte sich. Ich schaute Lea entsetzt an. »Entschuldige bitte«, sagte sie und streichelte meinen Arm. Dann las sie weiter. »Es war in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938. Gegen halb zwölf läutete die Frau des alten Bürgermeisters an der Tür des Rosenthal’schen Hauses. Sie flüsterte etwas und verschwand rasch wieder. Hektisch tuschelten die Männer miteinander, dann stiegen sie zu viert in Rosenthals Wagen und fuhren los. Die Frauen versammelten sich in der Küche und weinten.
    Was ist passiert? fragten wir Kinder aufgeregt. Sie haben Großvater Karlebach verhaftet. Sie haben sein Geschäft zerstört. Und sie haben die Synagoge angesteckt. Die Synagoge brennt!
    Die ganze Nacht kauerten wir zusammen und hielten uns an den Händen. Die jüngeren Kinder, die noch nicht verstanden, was geschah, schliefen bald wieder ein, aber wir Älteren taten kein Auge zu.
    Großvater Karlebach blieb vier Wochen lang in Haft. Nach seiner Entlassung war er ein gebrochener Mann. Der starke, unbezwingbare Patriarch war nur noch ein Schatten seiner selbst. Sein Lebenswerk - der Juwelierladen und die kleine bescheidene Synagoge, die er nach dem Ersten Weltkrieg erbauen ließ - war von den Nationalsozialisten zerstört worden. Am 30. Januar 1940, ein Jahr nach dem Tag, als Hitler vor dem Deutschen Reichstag die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa prophezeit hat, ist er verbittert gestorben.
    »Ich kann nicht mehr.« Lea reichte mir den Brief. Ich räusperte mich.
    »Inzwischen hatte Onkel Salomon den Karlebach’schen Juwelierladen an den ärgsten Konkurrenten in der Stadt verkaufen müssen. Für einen Spottpreis. Die traditionsreiche Goldschmiede Karlebach & Söhne war damit ausgelöscht.
    Darf ich Ihnen einen Satz aus Ihrer Lokalpost vom 11. November 1938 zitieren? Dort schrieb der Chefredakteur in seinem Kommentar: Möge dieses Beispiel der Judenschaft zeigen, dass Deutschland nicht länger mit sich spielen lässt und seine Feinde dort zu treffen weiß, wo es sie am meisten schmerzt.
    Ich denke, ich brauche Ihnen nicht zu schreiben, wie groß unser Schmerz war.
    Der Ring um uns Juden schloss sich immer enger. Unsere Pässe wurden eingezogen, wir mussten hinter unsere Vornamen >Israel< oder >Sara< einfügen, wir trugen den gelben Stern. Wir Kinder durften nicht mehr in die Schule, die Führerscheine der Männer wurden eingezogen. Nach Einbruch der Dunkelheit durften wir unser Haus nicht mehr verlassen. Unsere Radios, Fotoapparate, ja sogar unsere Fahrräder wurden beschlagnahmt, man sperrte unseren Telefonanschluss und die Konten. Das, was uns am Leben hielt, war die Hoffnung. Die Hoffnung, dass Ehrlichmann uns nicht mehr mit billigem Trost abspeisen, sondern sich für uns einsetzen würde, die Hoffnung, dass die Nazi-Barbarei bald ein Ende habe, die Hoffnung, dass vielleicht alles doch nicht so schlimm werde.
    Ortsgruppenleiter Pietsch setzte alle Verordnungen rigoros und ohne Milde durch. Das Rosenthal’sche Haus, in dem mit den Karlebachs aus der Stadt inzwischen einunddreißig Leute lebten, wurde rund um die Uhr beobachtet. Kaum jemand aus dem Dorf traute sich noch, mit uns zu sprechen. Der Einzige, der es öffentlich tat, war Bernhard. Er tat es nicht, weil er ein Widerstandskämpfer war, sondern aus seiner ehrlichen und patriotischen Gesinnung heraus. Als kaisertreuer Monarchist hat er sich mit

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