Karlebachs Vermaechtnis
den älteren Söhnen der Grünsteins und der Rosenthals mit seinen Affären und erklärte ihnen, wie es gemacht wird.
Großvater Karlebach erregte sich immer häufiger über seinen unmoralischen und undeutschen Lebenswandel, wie er es nannte. Er wiegelte die Alten gegen ihn auf, verbot uns Kindern den Kontakt zu ihm und irgendwann kam es zu einem handfesten Krach, wie es ihn nur in jüdischen Familien geben kann. Alles tobte und brüllte durcheinander, es wurde gezetert und geflucht. Ehrlichmann packte verbittert seine Sachen und verschwand mit den Worten: Eines Tages werdet ihr es bereuen, mich so behandelt zu haben.«
Ich legte den Brief auf den Tisch. »Gönn mir eine kurze Pause«, bat ich Lea. »Ich habe einen trockenen Hals.« Lea bestellte lautstark eine große Flasche Wasser und schnappte sich den Brief. »Dann lese ich weiter: Ehrlichmann hatte vorausgesehen, dass uns Juden der Wind wieder stärker ins Gesicht blasen würde. Die Olympiade in Berlin war vorbei und damit konnten die Nazis ihre Maske, die sie für das Ausland aufgesetzt hatten, wieder abnehmen. Plötzlich wurden auch in unserem Dorf Schilder angebracht mit der Aufschrift >Juden unerwünscht<. Wir durften nicht mehr ins Freibad und nicht mehr ins Dorfgasthaus. Wir Kinder wurden mit Steinen beworfen und nachts brüllten Betrunkene vor unserem Haus >Juda verrecke<. Die Mienen unserer Eltern wurden besorgter. Auch Großvater Karlebach schien seinen Optimismus mehr und mehr zu verlieren. Aber von Ausreise wollte er immer noch nichts wissen. Es ging uns trotz aller Anfeindungen wirtschaftlich weiterhin hervorragend. Und sein Juweliergeschäft wollte Großvater nicht aufgeben.
Dann kam der Spätsommer 1938. Unser Bürgermeister wurde abgesetzt. Offiziell, weil er zu alt sei, aber in Wirklichkeit war er den Parteigenossen nicht konsequent genug. Der neue Herr im Dorf war ein junger Mann von noch nicht einmal dreißig, ein strenger und unerbittlicher Nazi. Es war August Pietsch. Er war ein Emporkömmling, der von Anfang an auf die Partei gesetzt hatte und sich nun als Ortsgruppenleiter bewähren sollte. Sofort nach seinem Amtsantritt griff er hart durch. Plötzlich tauchte an jedem Mast im Dorf eine Hakenkreuzfahne auf. Ein junger Mann, der als Sozialdemokrat bekannt war und sich weigerte, die Fahne zu hissen und den Arm zum Hitler-Gruß zu heben, wurde verhaftet. Andere Dorfbewohner traten von heute auf morgen in die Partei ein.
Pietsch ließ keine Gelegenheit aus, um uns zu schikanieren. Und Dörflern, die trotz allem den Kontakt zu uns hielten, schickte er seine Meute SS-Männer auf den Hals. Er hätte uns am liebsten sogleich aus dem Dorf entfernt, aber wir hatten zwei gewichtige Fürsprecher: Den Fabrikanten Frick, der meinen Vater und Heinrich Rosenthal als Arbeitskräfte benötigte, und den Gauleiter. Ich habe nie erfahren, warum der sich für uns einsetzte. Eigentlich hätte er alle Gründe gehabt, uns Juden zu hassen, denn er ahnte zumindest, dass seine Frau ein Verhältnis mit Ehrlichmann hatte. Er war ein feinsinniger Mann mit Interesse für Kunst und Kultur. Vielleicht durchschaute er Pietsch als das, was er war - als einen dumpfen, brutalen Aufsteiger. Vielleicht hatte aber auch seine Frau ein gutes Wort eingelegt. Man hörte oft, dass sie die eigentliche Gauleiterin sei.«
»Ich denke, es war seine Frau«, kommentierte Lea. »Du nicht?«
»Im Nachhinein«, fuhr Lea mit dem Lesen fort, »sollte uns diese Fürsprache zum Verhängnis werden, denn Onkel Salomon hatte Großvater, dem es gesundheitlich immer schlechter ging, fast überredet, doch einen Ausreiseantrag zu stellen. Aber als dieser bemerkte, dass uns Pietsch zwar schikanieren, aber nicht wirklich verfolgen konnte, sagte er: Wir warten ab. Auch ein Pietsch und ein Hitler werden vergehen. Deutschland ist und bleibt unsere Heimat. Im September 38 zogen die Grünsteins ins Rosenthal’sehe Haus. Mit acht Personen. Sie hatten ihr Geschäft an einen verdienten Parteigenossen verkaufen müssen. Und ihre Wohnung über dem Laden mussten sie ebenfalls abgeben. Weit unter Wert. Die Grünsteins und Großvater Karlebach gerieten in einen heftigen Streit. Wir haben lange genug auf dich gehört, sagte der alte Grünstein, wir wandern aus! Doch es war zu spät. Die Grünsteins liefen von einem Konsulat zum anderen, schrieben Briefe, reichten Papiere und Zertifikate ein und fielen uns allen mit ihrer Warterei auf die Nerven. Unendlich langsam vergingen die Tage und doch rannte ihnen die Zeit
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